Zwischenruf

Ernst Sandriesser über Dankbarkeit

Vom Wert der Dankbarkeit - auch im Angesicht von Katastrophen - ist der Kärntner Caritasdirektor überzeugt

Am 29. Juni um 3.00 Uhr in der Nacht überfluten gewaltige Regenfälle das Gegendtal in Kärnten und richten in den Gemeinden Treffen und Arriach so große Zerstörungen an Häusern und Infrastruktur an, wie keine Naturkatastrophe der vergangenen Jahre.

Ich war am selben Tag in Treffen, im Haus Antonius der Caritas, eine sozialpädagogische Einrichtung, in der knapp 50 junge Menschen in schwierigen Lebensphasen unterstützt werden. Alle Räume im Keller sind zerstört. Gott sei Dank war es Nacht und alle Kinder waren in ihren Zimmern im Obergeschoss.

Ich habe viele Häuser und noch mehr Menschen vor Ort besucht. Ich habe dabei mit vielen Pensionisten gesprochen, deren Einfamilienhäuser aus den 70er und 80er Jahren zerstört wurden. Ich habe mit zwei Brüdern gesprochen, die vor drei Monaten das Haus der Großmutter mit einem Kredit bezugsfertig renoviert haben. Und ich war im Haus eines Ehepaars mit ihrer schwer behinderten Tochter, die in letzter Sekunde vor den Schlammmassen gerettet werden konnte. Der Vater ist 78 und hat mir erzählt, er möchte 90 Jahre alt werden, dann hat er noch 12 Jahre Zeit, um das Haus wiederaufzubauen. Und er sagte wörtlich: "Wir müssen eigentlich dankbar sein, dass es nicht schlimmer gekommen ist".

Dankbarkeit im Angesicht einer Katastrophe ist ein paradoxes Phänomen, aber es macht etwas sichtbar. Menschen, denen es eigentlich sehr schlecht geht, strahlen selbst im größten Unglück Zufriedenheit aus - warum? Weil sie dankbar sind für das, was sie haben, für das, was ihnen geblieben ist. Umgekehrt ist Wohlstand keine Garantie für Zufriedenheit und Dankbarkeit.

Menschen, die viel besitzen, leben oft in ständiger Angst, vieles zu verlieren. Doch wer dankbar ist auch für das Wenige und das Kleine im Leben, kennt diese Angst häufig nicht. Dankbarkeit ist ein wichtiges Mittel gegen Furcht. Eine dankbare Gesellschaft kann auch kollektive Furcht überwinden. Die Furcht vor den Folgen des Klimawandels. Die Furcht vor dem Verlust an Wohlstand. Die Furcht, in Zukunft weniger reisen zu können. Die Furcht, sich weniger Konsumgüter leisten zu können. Jesus von Nazareth, Franz von Assisi und Mahatma Ghandi waren Vorbilder der Furchtlosigkeit - auch weil sie dankbar waren. Eine Gesellschaft, die dankbar ist, hat demzufolge weniger Furcht vor der Zukunft und steht im Gegensatz zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft, die viel zu oft von Rivalität, Habsucht und Gewalttätigkeit geprägt ist.

Die Menschen im Kärntner Gegendtal wurden über Nacht mit einer Frage konfrontiert, die für uns alle von Bedeutung ist: Was bleibt, wenn alles verloren geht? Wer bin ich, wenn alles wegfällt? Was brauche ich wirklich im Leben und was gibt meinem Leben Sinn? Energiekrise, Inflation, Ukrainekrieg und Klimawandel machen unserer Gesellschaft Angst. Hinter all diesen Krisen steht letztlich eine zentrale Frage, der wir uns alle stellen sollten, weil sie eine große therapeutische Wirkung und ein hohes politisches Lösungspotential hat: Wieviel brauche ich zum Leben? Wieviel ist genug?

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Kurt Adametz
Gesamttitel: FLUCHT INS UNGEWISSE
Titel: New Mexico Waltz / Gitarre
Ausführende: Kurt Adametz
Länge: 02:27 min
Label: ORF Enterprise Musikverlag ORF-E-CD0052

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