ORF/JOHANNES PUCH
Gedanken für den Tag
Sylvia Plath
Brigitte Schwens-Harrant, Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche", beleuchtet Leben und Schreiben der vor 90 Jahren, am 27. Oktober 1932, in Massachusetts geborenen Lyrikerin Sylvia Plath
6. Oktober 2022, 06:56
Glasglocke
"Angeblich erlebte ich gerade die schönste Zeit meines Lebens", heißt es in dem 1963 erschienenen Roman "Die Glasglocke" von Sylvia Plath. Darin erzählt sie zunächst vom amerikanischen Traum, dass auch ein armes Mädchen vom Land etwas erreichen kann, wenn es tüchtig ist.
Esther Greenwood bekommt ein Stipendium fürs College, sie gewinnt den Wettbewerb einer Modezeitschrift und für einen Monat einen Job samt Aufenthalt und Extras in New York. Plath schildert mit größter Genauigkeit den gnaden- und rücksichtlosen Ausbau der Leistungsgesellschaft im Jahr 1953, die zunehmende Geschwindigkeit, die Party- und Medienwelt, das ständig Mehr- und Besserseinmüssen.
Sylvia Plath hat in diesem Roman, so meint Jahrzehnte später eine andere Schriftstellerin, nämlich Alissa Walser, "die Aktualität ihrer Zeit" mit notiert, "ohne zu wissen, wohin sie führen würde". Sie habe dieses Buch "an einem Punkt der Entwicklung von ,Vermassung' geschrieben", wo das, was wir uns heute zumuten, offenbar schon erkennbar war.
Hat die junge Esther New York so "im Griff wie das Lenkrad ihres eigenen Wagens", wie es heißt? Der Schein trügt. Denn, wie die Ich-Erzählerin kundtut: "Die Sache war nur die, dass ich gar nichts im Griff hatte, nicht einmal mich selbst."
Ingeborg Bachmann hat diesen Roman bewundert: "Das Auffallende", schreibt sie, "ist im Anfang der kaum glaubliche Humor, das Komische, das Infantile, das Clownhafte in dieser neunzehnjährigen Esther Greenwood, die ein Mädchen ist, das lauter Einser hat, alle Preise und Stipendien gewinnt und plötzlich in New York, zwischen Essen, Partys, dummen Küssereien, langsam verunglückt, und sie verunglückt auf eine so unmerkbare Weise, dass man sich selbst nach der dritten Lektüre fragt, wo dieses geheime Unglück anfängt und wie, und ich bin geneigt, es wie alles, was an einem Buch nicht beweisbar ist, für das Beste und Seltsamste zu halten."
Service
Sylvia Plath, "Die Glasglocke", Suhrkamp 2013
Ingeborg Bachmann, "Das Tremendum - Sylvia Plath: Die Glasglocke. Entwurf", Werke Band 4, Piper 1993
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: SebastiAn (= Sebastian Akchoté)
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Charlotte Gainsbourg
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Sylvia Plath
Gesamttitel: REST
Titel: Sylvia says
Solist/Solistin: Charlotte Gainsbourg
Solist/Solistin: SebastiAn (= Sebastian Akchoté)
Länge: 04:27 min
Label: Warner Music/Because/All Other 0190295755614