Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

José Saramago

Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell wirft Schlaglichter auf das Leben und Werk des portugiesischen Schriftstellers anlässlich dessen 100. Geburtstages

Als Kind hatte ich immer wieder Angst zu erblinden. Vielleicht fürchtete ich mich davor, weil meine Großmutter blind war - aber sie war ja auch taub, und vor dem Taubwerden hatte ich nie Angst. Aber Ängste sind nun einmal nicht rational zu erklären. Und wahrscheinlich hängt es doch mit dieser alten Angst zusammen, dass ich einen der berühmtesten Romane des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago erst jetzt zu seinem 100. Geburtstag gelesen habe: "Die Stadt der Blinden".

Der Roman beginnt damit, dass ein Autofahrer an einer Kreuzung stehenbleibt, weil er plötzlich erblindet ist. Der Mann, der ihm hilft und ihn nach Hause bringt - und ihm übrigens gleich danach das Auto stiehlt, erblindet ebenfalls. Und dann erwischt es auch den Augenarzt, der ihn untersucht. Es gibt keine Erklärung für diese grassierende Blindheit, aber sie ist hoch ansteckend und verbreitet sich wie eine Epidemie. Also werden die Blinden kurzerhand in einem aufgelassenen Irrenhaus abgesondert und dort - bis auf Essenslieferungen - sich selbst überlassen. Soldaten haben den Auftrag, die Fliehenden zu erschießen. Verstünde sich José Saramago nicht so gut auf groteske Situationen, wäre die Beklemmung oft kaum zu ertragen.

Anlässlich der Verfilmung des Romans hat Saramago in einem Interview einen kurzen Hinweis darauf gegeben, wofür das Horrorszenario seines Romans steht: "Sehenden Auges bleiben wir Blinde. Wir können sehen, aber sehen nicht. Wir leben mit dem alltäglichen Horror und haben gelernt, wegzuschauen."

Mich fasziniert in diesem Roman der Satz "In uns gibt es etwas, das keinen Namen hat, das ist das, was wir sind." Von den Figuren lässt mich die Frau des Augenarztes nicht los - die einzige Sehende, die ihre Blindheit nur spielt, um bei ihrem Mann sein zu können. Warum erblindet sie nicht? Weil die Nähe zu ihrem Mann stärker ist als alle Angst - eine andere Erklärung finde ich nicht. Und weil sie damit befasst ist, zu helfen, wo sie kann, ohne ihre Verstellung aufzugeben. Ich versuche, mir etwas von ihr abzuschauen; aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt.

Service

Josè Saramago, "Das Evangelium nach Jesus Christus", Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993 (nicht mehr lieferbar)
Josè Saramago, "Kain", Hoffmann und Campe. Hamburg 2011
Josè Saramago, "Das Zentrum", Btb 2014
Josè Saramago, "Die Stadt der Blinden", Btb 2015
Josè Saramago, "Das Memorial", Atlantik Verlag 2018

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Júlio Resende
Gesamttitel: Fado Jazz Ensemble
Titel: Al the things - Alfama - Are/instr.
Solist/Solistin: Júlio Resende
Ausführender/Ausführende: Bruno Chaveiro
Ausführender/Ausführende: André Rosinha
Ausführender/Ausführende: Alexandre Frazão
Länge: 03:38 min
Label: Warner Music International 0190295158491

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