Tagebuch

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Der Jahresbeginn im Spiegel von Tagebüchern

In ihren Tagebüchern äußern sich Schriftstellerinnen, Künstler und Denkerinnen am persönlichsten, darum sind sie eine faszinierende Lektüre, findet Literaturkritiker Cornelius Hell

"Endlich ist mein Entschluss gefasst, ein Tagebuch zu schreiben, in welchem man alles, was freudig oder auch traurig das Herz bewegt, dem Gedächtnis überliefert, um sich nach Jahren noch an Leben und Treiben dieser Zeit und besonders meiner zu erinnern."

Diese Notiz verfasste der Philosoph Friedrich Nietzsche am 26. Dezember 1856, und er ist bei weitem nicht der Einzige, der sich vornahm, mit dem neuen Jahr ein Tagebuch zu beginnen. Auch die Motivation dafür hat er gut auf den Punkt gebracht: Die eigenen freudigen und traurigen Gefühle festzuhalten und sie nicht untergehen zu lassen in einer grauen Alltäglichkeit, die alles einebnet. Und was ich besonders treffend finde an dieser Notiz: Das Tagebuch ist ein bewährtes Mittel, sich seiner selbst zu erinnern, das heißt, nicht zu vergessen, was einen einmal bewegt hat.

Das Tagebuch ist ein Weg zu einer bewussteren Lebensführung, denn man empfindet, denkt und beobachtet intensiver, wenn man die eigenen Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen einer Aufzeichnung für wert hält. Und sie werden dadurch klarer, weil das Aufschreiben immer auch die erste Stufe der Reflexion ist.

"Früh aufstehen - Keine Zeit vertrödeln - Ein Tagebuch führen." So lautet der Neujahrsvorsatz des englischen Gelehrten und Dichters Samuel Johnson, niedergeschrieben am 1. Jänner 1753. Johnsons Tagebuch, das mit vielen Gebeten durchsetzt ist und in Verbindung mit der Beichte steht, zeigt die religiösen Ursprünge des Tagebuchschreibens. Im 18. Jahrhundert war die pietistische Frömmigkeit mit ihrem Blick auf die eigene Seele und ihrer Praxis der Introspektion ein großer Tagebuch-Generator. Protestanten tendieren übrigens eher zum Tagebuch als Katholiken, hat die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag - auch sie eine große Tagebuchschreiberin - einmal festgestellt. Der Grund dafür: Für Katholiken steht zu viel Beschäftigung mit dem eigenen Selbst tendenziell unter Sündenverdacht.

Ich denke, mit dem Tagebuch ist es wie mit einem Spiegel: Schaut man zu oft hinein, verfällt man in narzisstische Selbstbespiegelung. Schaut man nie hinein, vergisst man, wie man aussieht und wer man ist. Und ich weiß schon: Ich muss in diesem Jahr meinen Tagebuch-Spiegel wieder öfter aufschlagen.

Service

Tagebücher von Samuel Johnson - zitiert nach: Gustav René Hocke: "Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie", Fischer Taschenbuch 2980
Susan Sontag, "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964 - 1980", Carl Hanser Verlag, München 2013
"Victor Klemperer. Tagebücher 1942", herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 1999
Max Frisch, "Die Tagebücher 1946 -1949. 1966 -1971", Suhrkamp Verlag 1983
Imre Kertész, "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 - 2001", Rowohlt Verlag 2016
Ilse Aichinger, "Kleist, Moos, Fasane", Fischer Taschenbuchverlag 1991
"Sándor Márai. Tagebücher 7. 1943 - 1944", ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Polzim, herausgegeben von Siegfried Heinrichs, Oberbaum Verlag 2001

Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften. 1856 - 1861
Arthur Schnitzler Tagebuch 1879 - 1931

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Narciso Yepes
Gesamttitel: Cinema
Titel: Jeux interdits/instr. / a.d.gln.Film / "Verbotene Spiele"
Solist/Solistin: Alexandre Tharaud
Orchester: Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia
Leitung: Antonio Pappano
Länge: 02:09 min
Label: PLG Classics 5054197184628 (Doppelalbum)

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