Tagebuch

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Der Jahresbeginn im Spiegel von Tagebüchern

In ihren Tagebüchern äußern sich Schriftstellerinnen, Künstler und Denkerinnen am persönlichsten, darum sind sie eine faszinierende Lektüre, findet Literaturkritiker Cornelius Hell

"Das Klima der Sympathie - wie sehr wir darauf angewiesen sind! Es zeigt sich, sobald uns eine Sympathie, die lang vorhanden gewesen ist, entzogen wird. Da ist es, als habe man keine Luft unter den Flügeln."

Mit diesem Satz beginnt das Tagebuch von Max Frisch im Jahr 1949. Man könnte es als ein öffentliches Tagebuch bezeichnen. Arthur Schnitzler hat sein Tagebuch einen "Spucknapf meiner Stimmungen und Verstimmungen" genannt, und wie Thomas Mann hielt er es sogar vor der eigenen Ehefrau geheim. Max Frisch hingegen schrieb es mit Blick auf die Veröffentlichung, als Medium der Selbstreflexion.

Die Erfahrung, dass man Sympathie wie die Luft zum Atmen und zum Fliegen braucht, kann einem gerade am Jahresbeginn bewusst werden. Während Weihnachten weitgehend zu einem Familienfest geworden ist, feiert man den Jahresanfang meist mit Freundinnen und Freunden. Oft habe ich gerade am Anfang eines neuen Jahres gespürt, wessen Sympathie mir Auftrieb verleiht - und wem ich selbst diese Sympathie entgegenbringe. Sympathie könnte ein reichlich nebulöses Wort sein, aber Max Frisch beschreibt sie sehr genau:

"Sympathie nicht als Unterlassung der Kritik. Aber: Sympathie hat Geduld, die Geduld der Hoffnung, sie behaftet uns nicht auf einer einzelnen Gebärde, die ungehörig ist, vorlaut, tappig, eitel, rücksichtslos, selbstgerecht; sie lässt uns stets eine weitere Chance . Anders der Partner, der keine Sympathie empfindet: er verbucht, was ist, und gibt keinen Vorschuss, er ist aufmerksam und gerecht, und das ist fürchterlich."

Max Frisch weiß als Schriftsteller, dass er ohne eine Sympathie, und wäre es auch eine noch so ferne, keine einzige Zeile schreiben könnte. Und er beschreibt den Abgrund, der sich auftut, wenn man aus der Sympathie herausfällt: "Der Schutzengel: die Sympathie, wir brauchen ihn immerzu - und dabei ist es nur ein Hauch, was uns schützt, was uns von dem Ungeheuerlichen trennt, von dem Rettungslosen, wo nichts mehr für dich zeugt, kein eignes Wort, keine eigne Tat."

Ich habe im vergangenen Jahr besonders oft und reichlich Sympathie erfahren. Vielleicht gelingt es mir ja, in meiner Umgebung etwas von dem Auftrieb spürbar werden zu lassen, den mir das gegeben hat.

Service

Tagebücher von Samuel Johnson - zitiert nach: Gustav René Hocke: "Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie", Fischer Taschenbuch 2980
Susan Sontag, "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964 - 1980", Carl Hanser Verlag, München 2013
"Victor Klemperer. Tagebücher 1942", herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 1999
Max Frisch, "Die Tagebücher 1946 -1949. 1966 -1971", Suhrkamp Verlag 1983
Imre Kertész, "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 - 2001", Rowohlt Verlag 2016
Ilse Aichinger, "Kleist, Moos, Fasane", Fischer Taschenbuchverlag 1991
"Sándor Márai. Tagebücher 7. 1943 - 1944", ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Polzim, herausgegeben von Siegfried Heinrichs, Oberbaum Verlag 2001

Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften. 1856 - 1861
Arthur Schnitzler Tagebuch 1879 - 1931

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Wojciech Kilar
Gesamttitel: Cinema
Titel: Générique/instr. aus dem Film "Le Roi et l'Oiseau" / "Der König und der Vogel"
Solist/Solistin: Alexandre Tharaud
Orchester: Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia
Leitung: Antonio Pappano
Länge: 02:23 min
Label: PLG Classics 5054197184628 (Doppelalbum)

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