Mut und Widerstand

17. Juli 2023, 06:57

Wenn zwei Menschen wütend sind aufeinander und streiten, dann kommt es manchmal vor, dass sie einander anschreien. Das ist irgendwie seltsam, weil sie doch physisch nebeneinanderstehen.

Ein muslimischer Gelehrter hat einmal gesagt, dass der Grund dafür, dass sich Menschen anschreien, der ist, dass obwohl sie sich körperlich so nahe sind, sich ihre Herzen so stark voneinander entfernt haben. Und weil sich so eine große Distanz zwischen ihnen geschaffen hat, haben sie das Gefühl, sie müssten schreien, um diese Entfernung aufzuholen.

Es geht aber auch umgekehrt. Wenn man sich sehr liebt, wenn man eine sehr enge Beziehung zu jemandem hat, wenn sozusagen zwei Herzen sehr nahe zueinander sind, dann muss man nicht einmal ein Wort sagen und die andere Person versteht schon, was man sagen will. Es reichen ein Blick oder eine Bewegung.

Meine Volksgruppe, die Minderheit der Roma, Romnja, Sinti und Sintizze wurde über Jahrhunderte gehasst, vertrieben und ausgegrenzt. Wir haben lernen müssen, was es bedeutet, wenn sich Menschen so stark von uns entfernen, dass sie gar nicht verstehen wollen, wer wir sind. Wenn sie uns anschreien müssen, selbst wenn sie körperlich ganz nahe zu uns stehen, aber sich geistig komplett von uns abgrenzen wollen.

Wir haben gleichzeitig gelernt, uns innerhalb unserer Schutzräume, unserer Familien, unserer Community mit Blicken zu verständigen. Mit kleinen Bewegungen, bei denen unsere Geliebten sofort wissen, was wir sagen wollen, ohne dass wir ein Wort sagen müssen.

Ich würde mir wünschen, dass es unsere Volksgruppe irgendwann so weit in die Mitte der Gesellschaft geschafft hat, dass uns die Mehrheitsgesellschaft mit Nähe, mit Offenheit und mit Respekt begegnet. Und dass die jahrhundertelang andauernde Ausgrenzung ein Ende hat, dass sie uns nicht mehr anschreien wollen. Und dass wir uns vielleicht alle, zumindest manchmal, mit Blicken verständigen können.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler