Wir sahen genug

1. Dezember 2023, 06:57

Ich fahre alles mit dem Zug. Beruflich und privat. Seit 42 Jahren. Und mittlerweile ist das ja geradezu vorbildlich, keinen Führerschein haben. Manchmal braucht man nur ein bisschen Geduld.

Aber neuerdings meint meine Frau, ich soll doch die Fahrschule nachholen. Damit wir auf der Flucht dann flexibler sind. Keine Sorge, wir wollen keine Bank ausrauben, Gasrechnung hin oder her, wir sind ehrbare Leute. Wir stehen früh auf, machen Schuljause und Porridge, dabei hören wir Radio. Wir hören, wie eine Partei verspricht, Journalisten Benehmen beizubringen, bis es soweit sei, könne man Zeitungen ja einfach zerschnippeln und hier, im Festzelt könne man auch gleich seine Messer schleifen lassen.

Ja, neben der Bühne steht wahrhaftig ein Schleifstein und die Besucher wurden im Vorfeld aufgefordert, ihre Messer mitzubringen. Der Redner geifert jetzt vom Herprügeln politischer Gegner. Wir leben in Österreich. Es ist schön hier und halb so gefährlich. Wir lachen viel, bewegen uns frei und streichen Pausenbrote für die Kinder. Dabei denkt meine Frau neuerdings manchmal an Flucht. Ihre Mutter ist aus dem Libanon geflohen, deren Eltern davor aus Armenien in den Libanon.

Ich stehe daneben, rühre im Brei und denke an innere Emigration. Meine Vorfahren waren Kärntner Slowenen, ein Vorbild ist Erich Kästner. "Wir sitzen alle im gleichen Zug und reisen quer durch die Zeit. Wir sehen hinaus. Wir sahen genug. Wir fahren alle im gleichen Zug. Und keiner weiß, wie weit". Kästner hat das 1931 geschrieben. Damals konnte er wirklich nur ahnen, wie weit manche Züge fahren würden, wenn man sie lässt. Wir wissen es heute. Wir sahen genug. Aber blöderweise machen Führerscheine nicht klug.

Service

Hosea Ratschiller

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler