Oskar Negt

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Menschenbilder

Oskar Negt in memoriam

"Keine Demokratie ohne Demokraten." Der Sozialphilosoph Oskar Negt

Mit Oskar Negt starb am 2. Februar 2024 ein führender Intellektueller Deutschlands. Nachrufe würdigten einen kämpferischen Demokraten und einen Hochschullehrer, der Tausende Studierende mit der Prägnanz seines Denkens beeindruckt, wenn nicht geprägt hat. Von Oskar Negts unermüdlichem Schaffen zeugt die zwanzigbändige Werkausgabe im Steidl Verlag; bekannt wurden unter anderem seine Veröffentlichungen mit Alexander Kluge: "Geschichte und Eigensinn", "Maßverhältnisse des Politischen" oder "Öffentlichkeit und Erfahrung".

Geboren 1934 in Königsberg, war Oskar Negt nach der Flucht 1945 als 11-Jähriger zweieinhalb Jahre in einem dänischen Flüchtlingslager getrennt von den Eltern untergebracht. Danach kam er nach Oldenburg und studierte nach dem Schulabschluss in Frankfurt bei Horkheimer und Adorno. Bereits in den 1950er Jahren trat er dem SDS, dem sozialistischen deutschen Studentenbund, bei und stand immer der Gewerkschaftsbewegung nahe.

Sein Weg vom Kind aus einer Arbeiter- und Bauernfamilie in Ostpreußen führte ihn zum "Olymp" der Frankfurter Schule, hier erlebte er die Studentenbewegung nicht nur hautnah mit, sondern war einer der Wortführer der APO, der Außerparlamentarischen Opposition. Nach seiner Dissertation über den Gegensatz von Positivismus und Dialektik bei Hegel und Comte wurde Negt acht Jahre lang Assistent bei Jürgen Habermas. 1970 wurde er Professor für Soziologie an der Leibniz-Universität in Hannover und blieb es drei Jahrzehnte lang bis zu seiner Emeritierung 2002.

Die Entwicklung eines politischen Urteilsvermögens hält Negt für die Voraussetzung jeder humanen Gesellschaft, und auch deshalb ist Bildung Negt ein lebenslanges Hauptanliegen. So verfasste er eine "Theorie der Arbeiterbildung" und war einer der Gründer der Glockseeschule in Hannover, die auf dem Prinzip der Selbstregulierung basiert - bis heute hat sie doppelt so viele Anmeldungen als freie Plätze und seit 1972 kennt sie keinen 45-Minuten-Takt, keine Schulglocke und kein Sitzenbleiben.

Über die Bedeutung des Jahres 1968 hatte Oskar Negt schon intensive Auseinandersetzungen mit Jürgen Habermas. Dass der linke Sozialdemokrat Negt den Grünen Joschka Fischer verteidigt und Positionen von 68er-Kritikern wie Götz Aly für "abenteuerlich" hält, verwundert nicht weiter - das Bedürfnis, "Anschluss an geordnete Mehrheiten zu finden", hatte er offenbar nie.
Zum Ableben von Oskar Negt wiederholen die "Menschenbilder" ein Porträt vom Juni 2014.

Service

Werkausgabe. 20 Bände. Steidl Verlag, Göttingen 2016

Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels. Frankfurt am Main 1964.

Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt am Main 1968.

(Hrsg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 1968.

Politik als Protest. Reden und Aufsätze zur antiautoritären Bewegung. Frankfurt am Main 1971.

(mit Alexander Kluge): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1972.

Keine Demokratie ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral. Frankfurt am Main 1976.

(mit Alexander Kluge): Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen -- Deutschland als Produktionsöffentlichkeit -- Gewalt des Zusammenhangs. Frankfurt am Main 1981.

Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt am Main/New York 1984.

Alfred Sohn-Rethel. Bremen 1988.

Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos der Moderne. Reisetagebuch und Gedankenexperimente. Frankfurt am Main 1988.


Die Herausforderung der Gewerkschaften. Plädoyers für die Erweiterung ihres politischen und kulturellen Mandats. Frankfurt am Main/New York 1989.

(mit Alexander Kluge): Maßverhältnisse des Politischen: 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt am Main 1992.

Kältestrom. Göttingen 1994

Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1994.

Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht. Göttingen 1995.

Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen 1997.

(mit Hans Werner Dannowski): Königsberg - Kaliningrad. Reise in die Stadt Kants und Hamanns. Göttingen 1998.

Warum SPD? 7 Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel. Göttingen 1998.

(mit Alexander Kluge): Der unterschätzte Mensch. Frankfurt am Main 2001. (Kompilation der Zusammenarbeit mit Kluge)

Arbeit und menschliche Würde. Göttingen 2001

Kant und Marx. Ein Epochengespräch. Göttingen 2003.

Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift. Steidl Verlag, 2004

Die Faust-Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer. Göttingen 2006

Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl Verlag, Göttingen 2010

Gesellschaftsentwurf Europa: Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen. Steidl Verlag, Göttingen 2012

Nur noch Utopien sind realistisch: Politische Interventionen. Steidl Verlag, Göttingen 2012

Überlebensglück. Steidl Verlag, Göttingen 2016.

Europa jetzt! Eine Ermutigung. Mit Emanuel Herold, Tom Kehrbaum und Ulrike Guérot. Steidl Verlag, Göttingen 2018

Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise. Steidl Verlag, Göttingen 2019.

Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bände1.-3, Steidl Verlag, Göttingen 2019, 2020, 2022

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