Die verschwundenen Bewohner

21. Juni 2024, 06:57

Dass das Grätzl, in dem die Familie meines Großvaters wohnte, auch jüdische Prägungen besaß, war in den späten 1950er Jahren nur spärlich zu bemerken, etwa wenn man vom Eckhaus an der Pillersdorfgasse in die Pazmanitengasse einbog, in der ein prachtvoller jüdischer Tempel gestanden hatte, 1913 unter der Patronanz des Kaisers errichtet, der für 900 Menschen Platz bot und 1938 bei den Novemberpogromen fast vollständig zerstört wurde. Im Pazamanitentempel hat übrigens der Schriftsteller Joseph Roth am 5. März 1922 Friederike Reichler geheiratet.

Dem Kind war der Name Pazmaniten, der auf einen ungarischen Humanisten des 16. Jahrhunderts zurückgeht, der in Wien Bildungseinrichtungen für Ungarn schuf, so unverständlich und fantastisch wie die Sprache und viele andere Wörter. Im 20. Jahrhundert wurde die kleine Gasse mit Schule und Synagoge zum Inbegriff von religiösen, sprachlichen und ethnischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. So hielt sich im Bezirk die Anzahl jüdischer und katholischer Mädchen, die wie meine Mutter die Bürgerschule besuchten, ungefähr die Waage.

Das änderte sich 1938, als der nationalsozialistische Mob mit Unterstützung des neuen Regimes zur Zerstörung dieser vielfältigen Lebenswelt schritt. Ungeachtet der so hartnäckigen wie aberwitzigen Behauptung, wonach man die Vernichtung der Juden gar nicht bemerkt habe. Wer es wissen wollte, der sah wie meine Mutter und meine Tanten, dass auch nach 1938 Menschen, wenn überhaupt, mit eingeschlagenen Zähnen, stumm und traumatisiert, in ihre Wohnungen zurückkehrten. Die verschwundenen Menschen im Grätzl, an die heute kleine Tafeln erinnern, sind und waren unheimlich anwesend. Auf dem Spielplatz in der Odeongasse spielen jüdische Kinder neben meiner Enkelin, die ich vom Kindergarten abhole.

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