Manuela Tomic

MICHAEL OBEX

Gedanken für den Tag

Joseph Conrad auf Long Island

Manuela Tomic, Journalistin und Autorin, zum 100. Todestag von Joseph Conrad

Am 21. April 1923 reist Joseph Conrad auf dem Dampfschiff Tuscania nach New York. "Je weniger ich daran denke, desto besser, sonst sterbe ich noch aus reinem Schiss, bevor ich einen Fuß an jene ferne Küste setze", schrieb er an seinen Freund, den Verlagslektor Edward Garnett kurz vor der Reise.

In New York angekommen wird der 66-Jährige wie ein Star gefeiert. Journalisten stürzen sich auf ihn und löchern ihn mit Fragen. Alle sind neugierig auf den Literaten, der vom Seemann zum Dandy wurde - und vom Polen zum Briten. Seiner Frau berichtet er in einem Brief: "Dass vierzig Kameras auf Dich zielen, gehalten von vierzig Männern, die aussehen, als kämen sie direkt aus den Slums, ist eine nervenzerfetzende Erfahrung."

Conrad lebt mehrere Wochen mit dem amerikanischen Verleger Frank Doubleday und dessen Familie auf einem Landsitz auf Long Island. Tagsüber hört er Beethoven und Chopin. Abends veranstaltet Doubleday Salons, zu denen ausgewählte Journalisten, Politiker und Verleger eingeladen werden. Am 10. Mai hält Conrad in Manhattan eine seiner letzten Lesungen, die er später als "großartiges Erlebnis" bezeichnen wird. Doch eine Zuhörerin, die ungarische Gräfin Palffy, erinnert sich anders an diesen Abend: "Er sah aus wie ein gehetzter Hase, bevor ihm ein Wilderer den Hals umdreht. Sein Atem ging keuchend, seine Stimme zitterte. (...) Leider war seine Aussprache so schlecht".

Conrad blieb ein Exot, sowohl in England als auch in den USA. So unangepasst, wie die Sprache in seinen Romanen, wie der Stoff, die Figuren. Am 9. Juni kehrt er, der Weltstar, nach London zurück. Bald wird Conrad auf den Rollstuhl angewiesen sein und seine Texte mit letzter Kraft diktieren. Der gehetzte Hase trotzt dem Tod. Er schlägt letzte Haken.

Service

Joseph Conrad, "Die Schattenlinie", Hanser Verlag 2022
"Jugend. Herz der Finsternis. Das Ende vom Lied", Fischer Verlag 2018
"Bericht über mich selbst", Kiepenheuer Verlag 1979
Manuela Tomic, "Zehnfingermärchen", Wieser Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: John Barry
Vorlage: Joseph Conrad
Gesamttitel: SWEPT FROM THE SEA / Original Filmmusik
Titel: Yanko asks Amy out
Anderer Gesamttitel: AMY FOSTER - IM MEER DER GEFÜHLE / Original Filmmusik
Orchester: English Chamber Orchestra
Leitung: John Barry
Länge: 02:09 min
Label: London 4587932

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