DPA/KARL-JOSEF HILDENBRAND
Menschenbilder
Liese Scheiderbauer, Zeitzeugin
"Es ist ein Wunder, dass ich am Leben bin." Die Tänzerin, Filmemacherin und Aufklärerin Liese Scheiderbauer (Wiederholung von Sonntag 14.05 Uhr)
4. September 2024, 00:05
Ihre früheste Erinnerung ist die an den Hut, der ihrem Vater vom Kopf geweht wurde. Es war am Bahnhof, der Vater bestieg einen Zug nach Italien, in der Hoffnung, von dort ein Schiff nach Shanghai nehmen zu können. Seine Frau und die beiden Töchter blieben in Wien zurück; alle vier wussten nicht, was in den nächsten Jahren auf sie zukommen sollte.
Liese Scheiderbauer wird 1936 als Elisabeth Pollak in Wien geboren; ihr Vater ist Arzt und stammt aus jüdischer Familie in Brünn, ihre Mutter aus einer evangelischen Offiziersfamilie. 1943 erhält die ältere Schwester - die spätere Ärztin Helga Feldner-Busztin - den Deportationsbefehl nach Theresienstadt. Ihre Mutter entscheidet sich, die Tochter zu begleiten und das bedeutet, auch die kleine Liese kommt mit. Eigentlich hätten sie das Konzentrationslager nicht überleben dürfen, meint Liese Scheiderbauer, durch viele Zufälle und die Arbeit der älteren Schwester in der Landwirtschaft des Lagers gelingt es. Ihr Vater überlebt inzwischen das Lager Auschwitz.
Nach der Befreiung zieht die Familie zurück nach Wien; Liese kommt zum ersten Mal in die Schule - in die vierte Klasse Volksschule. Mit ihrer besten Freundin wechselt sie ins Gymnasium, doch bald darauf stirbt diese Freundin an einem Sarkom. Liese Scheiderbauer bricht die Schule ab, macht eine Ausbildung zur Tänzerin - unter ihren Lehrerinnen ist die legendäre, von ihr verehrte Grete Wiesenthal, bekommt ein erstes Engagement in Salzburg.
Ihr Leben nimmt eine Wende, als sie Heinz Scheiderbauer kennenlernt und bald heiratet. An Seite des studierten Philosophen und Theaterwissenschaftlers, dann Fernsehpioniers und Filmproduzenten bereist sie die Welt, führt Interviews und organisiert die Produktionen mit, davon viele für das Fernsehen. Zum Ausgleich betreibt das Paar Weinbau in der Toskana.
"Wir waren extrem verschieden. Er hatte eine riesige Bibliothek, war wahnwitzig gebildet, ich hatte nur drei Jahre Schulbildung genossen. Er mochte Katzen, ich mochte Hunde. Er hat gern gegessen, ich nicht. Wir haben gar nicht zusammengepasst - aber wir haben einander vertraut."
In späteren Jahren beginnt Liese Scheiderbauer, in Schulen zu gehen und als Zeitzeugin von ihrer und ihrer Familie Geschichte zu erzählen. Nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 2020 steht Liese Scheiderbauer vor der Aufgabe, sich wieder neu im Leben zurechtzufinden und nach seiner jetzt ihre eigene Pflege zu organisieren. "Jeden Tag denke ich, dass es ein Wunder ist, dass ich am Leben bin."