Lernen: Im Maul des Löwen

11. September 2024, 06:57

Ein großes Tor gab den Blick frei ins Zuhause der Familie Jahoda in der Wiener Seidlgasse. Das Tor schmückte ein holzgeschnitzter Kopf eines brüllenden Löwen. Man dürfe dem Löwen nicht die Finger ins Maul stecken, erklärte man der kleinen Marie, er könnte beißen.

Das Mädchen hatte Zweifel. "Die Gelegenheit kam, als meine Mutter in der Nähe stand und mit irgendjemandem redete - eine notwendige Experimentalbedingung für den Fall, dass ich Hilfe brauchte. Ich nahm allen Mut zusammen, reckte mich und steckte dem Löwen einen Finger ins Maul. Er biss nicht." Von dieser ersten Alltagsforschung erzählt Marie Jahoda in ihren Erinnerungen. Die Sozialpsychologin und Mitbegründerin der qualitativen Sozialforschung ist berühmt geworden mit ihrer Studie über die Arbeitslosen in Marienthal.

Vorher hatte sie für ihre Dissertation in Wiener Versorgungshäusern Interviews geführt. In diesen Armenhäusern verbrachten Männer und Frauen ihren Lebensabend, wenn sie chronisch krank, pflegebedürftig und mittellos waren. Da blitzt auch erstmals Jahodas besonderer Blick auf: "Nicht beweisen, sondern entdecken, das Unsichtbare sichtbar machen". Ihre Interviews sind offen, und neugierig, etwas zu erfahren und zu lernen. Dem Löwen ins Maul greifen.

Nach ihrer Flucht in England angekommen begann Jahoda eine Forschungsarbeit über arbeitslose Bergarbeiter in Südwales. Sie lebte mit der Bergarbeiterfamilie unter einem Dach, spielte mit den Kindern, redete mit dem Vater, half beim Abwasch und schlief im zugewiesenen Bett. Das Interesse der Sozialpsychologin galt einem genossenschaftlichen Selbsthilfeprojekt im Eastern Valley. Dort spielte sie wieder ihre Stärke aus: den Finger in das Löwenmaul zu stecken - mit ihrem Blick auf die konkrete Lebenswelt und ihrem Interesse für Probleme von Menschen, die nicht im Licht stehen.

Service

Martin Schenk, "Brot und Rosen", Konturen Verlag

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