Zwischenruf
Eine treue Schwiegertochter als Vorbild
von Stefan Schröckenfuchs, Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich
17. November 2024, 06:55
"America first, Austria second". Vielleicht erinnern sich manche noch an die Reaktionen auf den US-Wahlkampf im Jahr 2016. Damals hat der jetzt wieder zum US-Präsidenten gewählte Donald Trump mit dem Slogan "Amerika zuerst" erstmals um Stimmen geworben. Zahlreiche kurze Videos gingen damals im Internet viral, in denen augenzwinkernd begründet wurde, warum Österreich (oder ein anderes Land) gleich nach Amerika kommen müsse. Eine humorvolle Reaktion auf eine recht eindeutige Botschaft.
America first, oder einfach: ich zuerst. Dieses Versprechen hat auch heute offensichtlich nichts von seiner Anziehungskraft verloren.
In der Bibel lese ich ganz andere Geschichten. Die Geschichte von Noomi und Rut zum Beispiel. Wegen einer Hungersnot flieht die Israelitin Noomi mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in das benachbarte Land Moab. Als Noomis Mann stirbt, heiraten Noomis Söhne moabitische Frauen. Doch die Söhne sterben kinderlos, und Noomi und ihre Schwiegertöchter Orpa und Rut bleiben zurück. Drei Witwen in einer Zeit, in der alleinstehende Frauen wenig Schutz genießen: das ist eine sehr verletzliche Gemeinschaft. Was wird ihre Zukunft bringen?
Als Noomi hört, dass es in ihrer Heimat wieder Nahrung gibt, beschließt sie, zurückzukehren. Sie denkt dabei jedoch nicht nur an sich. "Geht zu euren Müttern zurück!", sagt sie zu Orpa und Rut. "Ihr seid noch jung. Ihr habt die Chance, dass sich euer Leben wieder zum Guten wendet." Dass ihre eigene Situation ohne ihre Schwiegertöchter noch fragiler wird, nimmt sie in Kauf. Sie ist dazu bereit, weil es dem Leben der jungen Frauen dient.
Orpa willigt ein und kehrt um. Rut geht nicht. Auch sie ist zu einem Opfer bereit: "Schick mich nicht fort! Ich will dich nicht im Stich lassen", sagt sie. Und sie entschließt sich, zugunsten ihrer Schwiegermutter, das Schicksal als ausländische Witwe fern der Heimat auf sich zu nehmen. Nun ist es sie, die größere Verletzlichkeit riskiert. Ihr Motto ist nicht "Ich zuerst", sondern "Wir füreinander".
Die Geschichte endet mit einem Happy End: Zurück in Israel, gewinnt Rut die Aufmerksamkeit eines Mannes namens Boas. Der nimmt Rut zur Frau, und sorgt auch für Noomi. Bald darauf bringt Rut ein Kind zur Welt: Es ist Obed, der Großvater des großen Königs David. So wird die Fürsorge Ruts nicht nur zum Segen für Noomi und sie selbst, sondern zum heilvollen Meilenstein der biblischen Geschichte.
Mir macht diese Erzählung Mut, auch bei den Entscheidungen, die ich zu treffen habe, nicht nur an mich selbst zu denken. Es mag zwar oft verlockend sein, einfach das zu tun, was mir unmittelbar dient oder am bequemsten erscheint. Doch jede Entscheidung, die ich treffe, hat Auswirkungen auf andere. Da gilt es durchaus abzuwägen: Wird mein Vorteil anderen zum Schaden? Immer wieder habe ich erlebt, dass das, was ich zunächst für jemanden anderen getan habe, auch mir selbst zum Segen wurde. "Ich zuerst" mag verlockend sein. Aber ich bin überzeugt: Nur eine Gesellschaft, in der das "Wir" vor dem "Ich" steht, ist zukunftsfähig.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: James Kalamasz
Gesamttitel: BLUEGRASS COUNTRY
Titel: Mountain banjo
Länge: 01:22 min
Label: Abaco AB-CD 115