ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Gedanken für den Tag
Kreuz und quer durch Mayröcker-Texte
Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer, zum 100. Geburtstag von Friederike Mayröcker
16. Dezember 2024, 06:57
Friederike Mayröcker war schon eine berühmte Dichterin, als ich noch studierte. Ich hatte besonders großen Respekt vor ihr - weil ich ihre Texte meist nicht verstand.
Einmal las ich wieder eines ihrer Gedichte, das mir ein Rätsel blieb, doch dann fand ich einen sehr klugen germanistischen Aufsatz darüber, und alles schien mir klar. Doch als ich das Gedicht dann noch einmal las, verstand ich den Aufsatz nicht mehr, und das Gedicht erst recht nicht. Ich wagte nicht, darüber zu sprechen, und schämte mich, denn als ausgebildeter Germanist musste ich doch jeden Text interpretieren können. So an einem Gedicht zu scheitern, da fühlte ich mich wie ein Schlosser, der es nicht schafft, eine Tür zu öffnen.
Im Dezember 2001 wollte dann eine Zeitung unbedingt ein Interview mit Friederike Mayröcker von mir. Ich erschrak und wehrte mich, doch die Redaktion ließ nicht locker. Da begriff ich plötzlich: Für ein Interview muss ich keine klugen Interpretationen von mir geben, sondern nur Fragen stellen. Und wenn ich mich kreuz und quer durch Mayröcker-Texte lese, absichtslos und ohne Zwang, einen Text zu "verstehen", dann werden mir auch Fragen einfallen. So war es denn auch. Aber noch wichtiger als das gelungene Interview ist mir heute die Erfahrung, dass ich mich wie ein Streuner durch das poetische Universum von Friederike Mayröcker bewegen kann - ohne zu glauben, ich müsse Texte erschließen, wie man eine Türe öffnet. Manche dürfen auch ein fremdes Geheimnis bleiben.
In einer Rede über ihre Dichter-Kollegin Elke Erb hat Friederike Mayröcker erzählt, was für sie die Faszination von Literatur ausmacht: "ein großes Buch muss sich lesen, wie aus einer fernen Sprache übersetzt, wie von weit her, wie eine alte Schrift in einer alten märchenhaften Übersetzung so wie sie unserer Kindheit Glanz verliehen hat: Poesie also, die im modernen Sinn wieder zum Märchen geworden ist."
Service
Friedericke Mayröcker, "fleurs", Suhrkamp
"cahiers", Suhrkamp
"études", Suhrkamp
"Magische Blätter I-V", Suhrkamp
Marcel Beyer (Hg.), "Gesammelte Gedichte 2004-2021", Suhrkamp
Erika Kronabitter (Hg.), "HAB DEN DER DIE DAS. Der Königin der Poesie Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag", Edition Art Science
Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic, Susanne Rettenwander (Hg.), "ich denke in langsamen Blitzen. Friederike Mayröcker, Jahrhundertdichterin", Paul Zsolnay
"Der Brief an den Einbrecher" in: "Wiener Hefte 2: alles aufarbeiten! Friederike Mayröcker", Wienbibliothek im Rathaus
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Sendereihe
Gestaltung
Übersicht
Playlist
Komponist/Komponistin: Frederic Chopin 1810 - 1849
Album: Welte Mignon 1905 : Berühmte Pianisten der Jahrhundertwende spielen Chopin
Titel: Nocturne für Klavier Nr.13 in c-moll op.48 Nr.1
Solist/Solistin: Teresa Carreno
Ausführender/Ausführende: Welte Mignon
Länge: 01:55 min
Label: Teldec 843930