Friederike Mayröcker

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Friederike Mayröcker und die Dorfwelt

Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer, zum 100. Geburtstag von Friederike Mayröcker

Vor zehn Jahren gratulierten viele Autorinnen und Autoren Friederike Mayröcker mit einem Text zu ihrem 90. Geburtstag.

Ich war glücklich über die Einladung, mich an diesem Buch zu beteiligen, und im Band "études" fand ich auch gleich einen Mayröcker-Text, der aus einem einzigen Satz besteht; auf den wollte ich mich beziehen.

Doch dann geriet alles ins Stocken, denn nichts, was ich zustandebringen könnte, schien mir gut genug für Friederike Mayröcker. Aber als ich dann mein Kindheitsdorf Rußbach am Pass Gschütt im Salzburger Land besuchte, war ich plötzlich mitten im Mayröcker-Text. Sein erster Halbsatz nahm mich mit in seinen Rhythmus und wurde zum Impuls, ihn weiterzuschreiben. Nie sonst hatte ich eine so intime Nähe zu einem vorgefundenen Text. Wenn ich meinen Text lese, mache ich eine kurze Pause am Ende des Mayröcker-Halbsatzes, der ihn in Gang gesetzt hat:

"vor der Tür hocken und zusehen was vorgeht in der Welt mit einem Glöckchen in der Hand und zusehen was vorgeht vor der Tür und schauen wer kommt und geht und verlassen sein" - auch jetzt noch, wenn ich mich bücke nach Erde und Rede, um die Blumen wieder einzusetzen und die Leute vom Dorf lebendig werden zu lassen, auch jetzt noch am weißen Schreibtisch, an dem ich mich ans Licht schreibe, mich heranschreibe an Licht und Geheimnis und die Pelargonien sehe, die mir in das Dorf leuchten, in dem ich verlassen war und schauen gelernt habe und dass ich nicht dazu gehöre und vor der Tür hocken und zusehen muss und nur so draufkomme was vorgeht und nur so meine Welt finden kann, meine Dorfwelt von damals und meine Schreibwelt von heute, den endlosen weißen Schnee und den weißen Tisch, wo ich vor der Tür hocke und zusehe und das Glöckchen in der Hand nur ja nicht bewege, damit es noch lange so still ist.

Service

Friedericke Mayröcker, "fleurs", Suhrkamp
"cahiers", Suhrkamp
"études", Suhrkamp
"Magische Blätter I-V", Suhrkamp
Marcel Beyer (Hg.), "Gesammelte Gedichte 2004-2021", Suhrkamp
Erika Kronabitter (Hg.), "HAB DEN DER DIE DAS. Der Königin der Poesie Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag", Edition Art Science
Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic, Susanne Rettenwander (Hg.), "ich denke in langsamen Blitzen. Friederike Mayröcker, Jahrhundertdichterin", Paul Zsolnay
"Der Brief an den Einbrecher" in: "Wiener Hefte 2: alles aufarbeiten! Friederike Mayröcker", Wienbibliothek im Rathaus

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Frederic Chopin 1810 - 1849
Album: Welte Mignon 1905 : Berühmte Pianisten der Jahrhundertwende spielen Chopin
Titel: Nocturne für Klavier Nr.13 in c-moll op.48 Nr.1
Solist/Solistin: Teresa Carreno
Ausführender/Ausführende: Welte Mignon
Länge: 06:10 min
Label: Teldec 843930

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