Punkt eins

Die verlorene Mitte

Koalitionsverhandlungen, Konsensfindung und die Suche nach einer Politik für uns alle. Gäste: Em.o.Univ.-Prof. Dr. Max Haller, Soziologe; Dr. Katrin Praprotnik, Politikwissenschafterin. Moderation: Xaver Forthuber. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Die Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben, der Bundespräsident Aufträge erteilt, die Parteien haben die Köpfe zusammengesteckt - und nach 96 bzw. 97 Tagen die Handtücher geworfen. Neue Konsultationen, neuer Auftrag, neue Verhandlungen - mit neuem Personal und scheinbar neuen roten (schwarzen?) Linien. Und voraussichtlich eine Regierung unter Führung der FPÖ, des "rechtspopulistischen" (die Zeit) bis "rechtsextremen" (New York Times) oder auch "ultra-rechten" (La Repubblica) Randes. Bedeutet das gleichzeitig ein "Scheitern des Zentrismus" (Le Monde, Financial Times) - und gar eine "veritable Staatskrise" (Süddeutsche Zeitung)? Ist die politische Mitte verlorengegangen?

Dass die Meinungen in der Gesellschaft stark auseinandergehen - und die Politik Koalitionen bilden, Kompromisse aushandeln muss -, ist in einer Parteiendemokratie mit Verhältniswahlrecht nicht ungewöhnlich, sagt die Politikwissenschafterin Katrin Praprotnik von der Universität Graz. Dass sie sich dabei in letzter Zeit besonders schwer zu tun scheint, müsse auch noch kein Defizit sein. Das Wahlverhalten sei dynamischer geworden, was auch auf eine lebendigere Demokratie hindeuten könne. Und die wahrgenommene Polarisierung in der Gesellschaft, das zunehmende Auseinanderdriften in Richtung der radikalen Ränder? Grundsätzliche Auffassungsunterschiede über die politische Ausrichtung des Landes habe es in der Zweiten Republik auch immer schon gegeben - sie hätten sich nur von der Themenebene in Richtung der emotionalen Ebene verlagert, so die Politoligin. War die politische Gegnerin früher vielleicht einfach ideologisch von der anderen Seite gekommen, werden ihre Positionen heute mehr und mehr geradeheraus als moralisch verwerflich oder sogar gefährlich gesehen.

Wo die gemeinsamen Werte in unserer Gesellschaft zu suchen sind, wie ihre Durchsetzung funktioniert und woraus sich ihre Anerkennung speist - darüber hat der Soziologe Max Haller soeben ein Buch veröffentlicht. "Radikale Werte" ist ein Streifzug durch Philosophie, Sozialtheorie und Sozialforschung, in dem Haller zu dem Schluss kommt, dass gewisse Grundwerte sehr wohl Bestand haben - und sich sogar eher ergänzen, als sich in permanentem, unauflösbarem Konflikt zu befinden.

"Das Herz der Demokratie ist das Finden von gemeinsamen Lösungen", überschrieb Alexander van der Bellen seine Rede anlässlich seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten. Wie wurde und wird in politischen Verhandlungen nach einem Konsens gesucht? Was wäre ein Kompromiss, was wäre die - vom Bundespräsidenten wiederholt geforderte - Politik für alle, die in Österreich leben? Was verstehen wir unter Zentrismus, wo ist das Gemeinsame geblieben, liegt es in der vielbeschworenen "Mitte", und gibt es die überhaupt?

Katrin Praprotnik und Max Haller sprechen mit Xaver Forthuber und unseren Hörer:innen über Konsensfindung in der Gesellschaft und ihre Umsetzung in der Politik. Reden Sie mit: Rufen Sie in der Sendung an unter 0800 22 69 79 oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at.

Service

Max Haller: Radikale Werte. Die Interessen der Menschen und ihre gesellschaftlich-politische Durchsetzung. Wiesbaden: Springer, 2024.

Katrin Praprotnik, Flooh Perlot (Hrsg.): Das Politische System Österreichs. Basiswissen und Forschungseinblicke. Wien/Köln: Böhlau, 2023.
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