Gedanken für den Tag
Ambivalenz
von Wolfgang Müller-Funk, Literaturwissenschaftler.
20. Jänner 2025, 06:57
Ambivalenz ist ein sperriges Wort, das sich nicht leicht erklären lässt. Es gehört zu jenen Phänomenen, die logisch eigentlich unmöglich sind, Ja und Nein, dafür und dagegen, lieben und hassen. Ambivalenz lässt sich negativ beschreiben: Ambivalenz ist kein Weder-Noch, kein Entweder-Oder, am ehesten noch ein Sowohl-Als auch. Ein so unmögliches wie mögliches Und (zugleich). In Gestalt der Hassliebe ist es eine Befindlichkeit und doch zugleich auch eine Denkfigur. Debütiert hat sie in Psychologie und Psychiatrie als Störung im Grenzbereich der Schizophrenie.
Die Ambivalenz, die der Romancier Milan Kundera als postmoderne Befindlichkeit einer "unerträglichen Leichtigkeit des Seins" beschrieben hat, ist womöglich selbst ein ambivalentes Phänomen: Geist und Gefühl einer unentrinnbaren Unentschiedenheit, Unvermögen und Vermögen, im Zwiespalt Gefangen-Sein und zugleich Fähigkeit, die Kompliziertheit der modernen Welt zu erfassen und zu ertragen. Mangel und Chance.
In seinen "Gedanken für den Tag" unternimmt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk sechs kleine Reisen in die Territorien des Humanen, in denen der moderne Mensch von dieser großen Unentschiedenheit erfasst und heimgesucht wird, im Alltag, in der Liebe, gegenüber unseren Nächsten, aber auch in Gesellschaft, Kunst, Philosophie und Kultur.