Ambivalenz und Lebenswelt

21. Jänner 2025, 06:57

Wir denken in Gegensätzen und können gar nicht anders denken. Wir kennen positive und negative Gefühle, Lust und Unlust, Wünsche und Ängste. Aber das bedeutet nicht, dass wir in einer Welt leben, die eindeutig und real ist so wie die Welt der analogen und der digitalen Maschinerie.

Unser technisch gesteuerter Alltag kann nicht ambivalent oder mehrdeutig funktionieren. Er folgt unbeirrbar einem binären Code: 0, 1, 00, 01, 11. usw. Die Ambivalenz, dieses Unentschlossen-Sein in Hirn und Bauchgegend, ist keineswegs bloß ein Mangel oder gar ein seelisches Defizit. Die Ambivalenz tritt zutage, wenn es keine übergeordnete und autoritative Instanz gibt, die mir Ja und Nein vorschreibt und damit die Freiheit der Entscheidung abnimmt.

Die vieldiskutierte KI kann, wenn sie mit Informationen entsprechend digital gefüttert wird, über Ambivalenz sprechen, das ändert nichts daran, dass sie binär strukturiert ist und nicht in einer Welt von mehrdeutigen Beziehungen existiert. Sie lebt nämlich überhaupt nicht. Was wir als Ambivalenz beschreiben, dieser Zweispalt, der unsere Gedanken- wie unsere Gefühlswelt erfasst, ist Teil unserer Existenz, unserer Lebenswelt.

Ambivalenz ist relevant für unseren Selbstbezug wie für das Verhältnis zu den anderen. Sie entspringt der Möglichkeit des Menschen, zu sich auf Distanz zu gehen und sich mit den Augen anderer zu betrachten. Sie speist sich nicht zuletzt aus unseren Erinnerungen, die dabei eine wichtige Rolle spielen. Sich zu erinnern, sich nahe zu kommen und in die Ferne zu sich zu geraten, wird von uns als so schmerzhaft wie ermutigend erfahren. Eben als ambivalent. In der binären Welt der formalen Intelligenz gibt es keine eigene, irritierende Vergangenheit.

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• Alexandra Mantler