Zwischenruf

Orte der Macht, Orte der Solidarität

von Milena Heussler, evangelisch-reformierte Theologin in Österreich

Was sehen Sie vor Ihren inneren Augen, wenn Sie an das Wort Kanzel oder Pult denken? In mir kommen Bilder auf von dunklem Holz, ernsten Stimmen und Talaren. Ich sehe mich als Kind in der Kirche sitzen, mit den Füßen baumelnd, und höre eine Stimme, die mir nichts wirklich Verständliches erzählt. Ich sehe mich als Studierende in Vorlesungen, mitschreibend, schon mehr verstehend, aber weiter einer Stimme zuhörend, die von einer Kanzel, einem Pult kommt. Und ich sehe mich in letzter Zeit zunehmend besorgt, vor Bildschirmen, auf denen Menschen von Kanzeln und Pulten aus Reden halten, die daraus bestehen, auf andere zu zeigen und diese zu beschimpfen.

Kanzeln für Predigten, Pulte für wissenschaftliche Vorträge, für Reden, für Urteilsverkündungen: Das sind Orte verkörperter Macht. Wer dahinter steht, der oder die darf offiziell beglaubigt sprechen, ihm oder ihr muss zugehört werden. Damit stets verbunden ist die Gefahr für andere, abgekanzelt zu werden: Als Mensch eingeteilt zu werden in eine Kategorie, der man nicht zugehören will, von der es vielleicht sogar gefährlich ist, zu ihr gezählt zu werden.

Und so verstehe ich als Theologin alle Kolleginnen, die in Kirchenräumen nicht mehr von der Kanzel sprechen wollen, und Mitmenschen, die diesen Machtort prinzipiell in Frage stellen. Umso überraschter war ich jedoch, als vor ein paar Wochen die Nachrichten gefüllt waren von einem Moment auf genau einer solchen Kanzel. Als die Theologin Mariann Edgar Budde sich in einem Gottesdienst direkt an den US-Präsidenten wandte und ihn bat: Hab Erbarmen! Erbarmen mit denen, die in Angst vor den Plänen dieser Regierung leben.

Wir wissen mittlerweile, dass der Adressierte für die Inhalte dieser Worte Verachtung zeigt. Doch in diesem Moment und auf die Weise, wie viele berührt waren, für die Predigten von Kanzeln sonst schon lange kein Faktor des Trostes mehr sind… In all dem habe ich mich erinnert. Erinnert an eine Vorlesung zur Ethik. Da sprach, auch von einer Kanzel, der Vortragende davon, dass Predigten und Gebete Potential haben, andere zu vergegenwärtigen. Nämlich in jenem Moment, in dem auf einer Kanzel nicht die Macht dessen im Vordergrund steht, der gerade spricht, sondern die Sprechende zum Medium wird. Zum Medium für die Realität derer, die ausgeschlossen sind und in Angst leben müssen - und die deshalb kein willkommener Teil unseres Nachdenkens sind.

Und zwar weil sie uns daran erinnern, dass wir selber verletzlich sind durch die Unsicherheiten des Lebens. Eine solche Vergegenwärtigung lässt eine andere Realität spürbar werden. Eine Realität, die von der Liebe zum Menschen geprägt ist, und von der Sorge um andere. Ich glaube fest daran, dass ein Leben in Liebe und Sorge um andere reicher ist als ein Leben in Hass und Angst. Und ich glaube, viele von uns sehnen sich nach mehr von dieser Realität, gerade jetzt. Wenn mir dieser Moment auf einer amerikanischen Kanzel eines gezeigt hat, dann dies: Dass es in unserer Macht ist, diese Realität der anderen zu vergegenwärtigen. Mit Worten und/oder mit Taten.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Carmichael
Komponist/Komponistin: Parish
Album: Brubeck & Desmond
Titel: Stardust
Ausführende: Dave Brubeck
Ausführende: Paul Desmond
Länge: 04:37 min
Label: AM 394915

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