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Gedanken für den Tag
Wolfgang Bächler und das Schweigen
Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer, zum Welttag der Poesie
20. März 2025, 06:57
AUSBRECHEN
Ausbrechen
aus den Wortzäunen,
den Satzketten,
den Punktsystemen,
den Einklammerungen,
den Rahmen der Selbstbespiegelungen
den Beistrichen, den Gedankenstrichen
- um die ausweichenden, aufweichenden
Gedankenlosigkeiten gesetzt -
Ausbrechen
in die Freiheit des Schweigens.
Wolfgang Bächler, der Autor dieses Gedichts, weiß, wie notwendig es für die Poesie ist, aus den sprachlichen Ordnungen und Selbstverständlichkeiten auszubrechen. Und wie wichtig für ihr reduziertes, kondensiertes Sprechen das Schweigen ist. Er selbst war freilich zum Schweigen auch immer wieder verurteilt - schwere Depressionen zwangen ihn mehrmals zu langen Pausen zwischen seinen Gedichtbänden. So hat er einmal geschrieben:
Wer mein Schweigen nicht annimmt,
dem habe ich nichts zu sagen.
Wolfgang Bächler hätte gerade morgen, am Welttag der Poesie, seinen 100. Geburtstag. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts galt er als einer der großen deutschen Lyriker. Oft heißt es, ein Künstler, ein Sprachkünstler zumal, drücke sich aus. Wolfgang Bächler hat am Beginn seines Lyrikbandes "Nachtleben" ein Gedicht über diesen Ausdruck geschrieben:
Sich ausdrücken
wie man eine Zitrone ausdrückt.
Bitterer Saft das Gedicht.
Du sollst es nicht zuckern.
Für den Nutzen
wird nicht gehaftet.
Mit der Doppeldeutigkeit des Wortes "sich ausdrücken" wird gezeigt, wie viel - bei aller künstlerischen Transformation - von den Lebensumständen, vom Ich des Dichters, in seinem Gedicht zu finden sein kann. Und dass ein Gedicht eben ist, wie es ist. Man muss sich ihm nähern, ohne gleich auf seinen Nutzen zu schielen.
Ich möchte wieder öfter Wolfgang Bächler lesen, der auch mir in den letzten Jahren fast aus dem Blick entschwunden ist. Auch seine Traumprotokolle, die er während seiner tiefsten Depressionen meist morgens im Halbschlaf geschrieben hat, um sich von Alpträumen zu befreien.
Service
Gedicht, Wolfgang Bächler, "Ausbrechen", Hrsg. von Katja Bächler und Jürgen Hosemann, S. Fischer Verlag
Gedicht, Wolfgang Bächler, "Sich ausdrücken", Hrsg. von Katja Bächler und Jürgen Hosemann, S. Fischer Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Gabriel Fauré
Album: Nocturnes & Barcarolles
Titel: Nocturne für Klavier Nr. 5 B-Dur, op. 37 (N 80)
Solist/Solistin: Marc-André Hamelin /Klavier
Länge: 01:10 min
Label: hyperion CDA68331/2