Zwischenruf
Ein Blick in die Matratzengruft
von David Weiss, Kulturanthropologe und ehrenamtlicher Seelsorger der evangelisch-lutherischen Kirche
25. Mai 2025, 06:55
Ein Rückblick auf die Covid-19-Pandemie, auch Covid-Krise genannt... Sie bedeutete für alle Frauen, Männer, Kinder und Jugendlichen gleichermaßen ein Jahr Social distancing, Maskenpflicht, keinen Mannschaftssport, Homeoffice, Homeschooling - und an ein Fortgehen am Abend war gar nicht zu denken. Die Regierungsmaßnahmen wurden oft unter Protest als starke Eingriffe in das Privatleben empfunden. Ganz schlimm!
Solche Lebensumstände waren bis dato tabuisiert und exklusiv Außenseitern aka Randgruppen, so genannten sozial Schwachen zugeschrieben worden. Aber was für die einen eine unerträgliche Ausnahmesituation mit zum Teil ernstzunehmenden psychischen und sozialen Spätfolgen gewesen ist, ist für andere Alltag.
Chronisch Kranke und Menschen mit Behinderungen jeden Alters und Geschlechts meistern täglich unter solchen Bedingungen ihr Berufs- und Privatleben. Es gibt einen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Bewusst mit allem eins sein zu können setzt Freiwilligkeit und einen Entschluss voraus, Reize auszublenden und sich ganz im Augenblick zu versenken. Die Erfahrung macht glücklich. Krankheit und Leid machen einsam. Einsamkeit macht verhaltensoriginell. Spätestens seit Covid-19 wissen das auch alle, die bisher bestens integriert gewesen waren. Verlust und Schmerz haben sich eingeprägt.
Vulnerable Gruppen meiden aufgrund ihrer Symptomatik Menschenansammlungen, verwenden Desinfektionsmittel nach Kontakt und tragen in geschlossenen Räumen und öffentlichen Verkehrsmitteln FFP2-Masken. Nur die Allerwenigsten entscheiden sich dazu, buchstäblich in einer "anderen Welt" als ihre Mitmenschen zu leben, sie werden ausgegrenzt. Schutzmaßnahmen werden von einigen Mitmenschen als absurdes Verhalten wahrgenommen, ein paar wenige fühlen sich sogar provoziert, weil sie sich durch den Anblick einer Gesichtsmaske an die Covid-Krise erinnert und re-traumatisiert fühlen.
Ich habe selbst eine Autoimmunerkrankung und dadurch hervorgerufen, teils gut sichtbare Beeinträchtigungen wie rote Flecken in Gesicht. Ich kenne Verhaltensweisen aus eigener Erfahrung: Vordrängen beim Aufzug in der U-Bahnstation, Parken auf den für Personen mit Parkausweis für Behinderte reservierten Stellplätzen, Ausstrecken auf gekennzeichneten Sitzplätzen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Alles ist Ausdruck persönlicher Freiheit. À la: Ich entscheide, wo ich sitze - und bin ja sonst eh ganz lieb! Niemand möchte negative Eigenschaften (wie etwa Rücksichtslosigkeit) an sich wahrnehmen. Also werden allzu oft die Steine des Anstoßes, die Betroffenen, ausgeblendet und gemieden: die Menschen mit chronischer Krankheit bzw. Behinderung.
Eine so genannte "romantische Beziehung" ist bei aller Offenheit und Zuneigung für Menschen dieser Gruppe dann leider doch nicht vorstellbar. Biedere Worte, um zu verschleiern, dass die andere Person sexuell nicht attraktiv ist. Intimität wird neuerdings an Sexarbeiterinnen und andere professionelle Kräfte ausgesourct, die sogar Pflegeeinrichtungen besuchen. In entsprechenden Medienberichten werden sie wortreich als besonders empathisch angepriesen. Eine Freundschaft in eng gefasstem zeitlichem und örtlichem Rahmen geht aber immer, weil sie der gebenden Person ein karitatives Wohlgefühl beschert. Nach dem zugemessenen Kontakt sollen dann bitte wieder die professionellen Kräfte übernehmen, die Pflegerinnen und Therapeuten.
Der Dichter Heinrich Heine fasste sein Leben nach dem Mai 1848 mit "Matratzengruft" zusammen. Matratzengruft, das ist ein Leben mit Bettlägerigkeit und Morphium und Opiaten in immer höheren Dosen. Was sich Heinrich Heine in seiner Situation gewünscht hätte, darüber kann ich nur mutmaßen. Ich habe Monate in der Matratzengruft erlebt und mir nichts mehr oder weniger gewünscht als eine frische Brise, einen warmen Sonnenstrahl und eine sanfte Berührung auf der Haut zu spüren. Heute möchte ich mich in die Arme einer geliebten Frau fallen lassen, die nicht mehr in mir sieht als den Mann, der ich immer noch bin, keine Inspiration, keinen Duldner und schon gar kein Vorbild im Glauben. Dafür habe ich zu oft mit ihm gehadert. Einsamkeit ist Prüfung für den Glauben. Nicht umsonst heißt es in der Bibel: Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Friedrich Gulda
Album: MIDLIFE HARVEST / FRIEDRICH GULDA - MUSICIAN OF OUR TIME (1973/CD 4)
* 2nd movement / 2.Satz (00:06:38)
Titel: Sonatine für Klavier
Solist/Solistin: Friedrich Gulda /Piano
Länge: 06:43 min
Label: MPS/Universal 9828945 (5-CD-Set)