Thomas Mann, 1944

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Gedanken für den Tag

Thomas Mann als Patriarch

Gedanken von Hosea Ratschiller, Kabarettist, zum 150. Geburtstag von Thomas Mann

Ich hätte weniger arbeiten sollen und mich mehr um meine Liebsten kümmern. Laut Forschung bereuen Menschen im Angesicht des Todes am allermeisten ihren Fleiß und jedes Hintanstellen des Sozialen.

Bei Leonardo Da Vinci klingt das noch ganz anders: "Ich habe Gott und die Menschheit beleidigt, denn meine Werke haben nicht die Qualität erreicht, die sie hätten haben sollen." Diese letzten Worte werden ausgerechnet jenem Künstler zugeschrieben, auf dessen Bedeutung sich das Abendland wohl am mühelosesten einigen kann. Der große Erfinder, der Allvernünftige und Meister der Zentralperspektive, diesem ermöglichenden Ausdruck der westlichen Idee des eigenständigen Selbst, ohne das bürgerliche Identität undenkbar wäre und damit letztlich auch Demokratie, zweifelt also in der Stunde seines Todes den Wert der eigenen Kunst an.

Das ist Fishing for compliments auf höchstem Niveau. Mit welchem Lob die Himmelstür gekontert hat, darüber können wir nur spekulieren, vielleicht hat Petrus ja Humor: "Hey, Leonardo, Du hast schon recht, Dein Abendmahl ist echt das Letzte." Heute wissen wir, Autonomie ist nur dann eine gute Idee, wenn sie weder Rauschebart noch Heterosexualität oder weiße Hautfarbe voraussetzt. Wir wissen das heute, aber glauben können wir es noch immer nicht so richtig. Vor dem Hintergrund der eigenen Verstricktheit in den Verdacht des Vorranges wird begreifbarer, weshalb auch Geistesriesen sich Zeit ihres Lebens nie ganz von der Idee lösen, nur ein Patriarch könne ausreichend Sinn stiften.

Thomas Mann hat sich nicht trotz seiner Bildung, seines Talents und seines Ruhms gegen ein Outing und für ein Oeuvre entschieden, sondern weil er keinen Ausweg aus der strengen Kammer gesehen hat. Seine letzten Worte waren übrigens: Gebt mir meine Brille.

Service

Thomas Mann, "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher", S. Fischer Verlag 2002
Dieter Borchmeyer, "Thomas Mann. Werk und Zeit", Verlag Insel 2023
Michael Maar, "Das Blaubartzimmer. Thomas Mann und die Schuld", Rowohlt Verlag 2025

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Frederic Chopin 1810 - 1849
Album: CHOPIN - WALZER
Titel: Walzer für Klavier in h-moll op.69 Nr.2
Solist/Solistin: Dimitri Alexeev
Länge: 04:04 min
Label: EMI 7475012

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