Zwischenruf
Weil niemand vergessen wird
von Regina Polak, Theologin und Religionssoziologin
9. November 2025, 06:55
Heute ist der Gedenktag an die Novemberpogrome, die zwischen dem 7. und 13. November 1938 im gesamten Deutschen Reich stattfanden, also auch in Österreich.
Die Jüdin Laura Schwarz, 1924 in Graz geboren, erinnert sich in einem Zeitzeug:innen-Interview an eine dieser Nächte: "Mitten in der Nacht um 12 Uhr pumpert's an die Tür. Aufmachen, aufmachen!' Reingekommen ist die SS in schwarzen Uniformen. Sie haben die Kästen und Schubläden aufgerissen und alles auf den Boden geschmissen. Runter, raus, anziehen, schnell!', haben sie uns befohlen. Wir sind runter, rauf auf ein Lastauto, wo schon ein paar Juden aus der Mariahilferstraße oben waren. Dann ging es zum Tempel, der hat lichterloh gebrannt. Ich weiß nicht, wie lange wir dort gestanden sind, die haben uns den Anblick genießen' lassen. Kein Mensch hat etwas gesagt."
Von den 100.000 Jüdinnen und Juden, die in diesen Tagen von einer aufgehetzten Meute erniedrigt, geschlagen, totgeschlagen wurden, ist diese Erinnerung das Zeugnis einer der wenigen das NS-Morden Überlebenden. Denn die Novemberpogrome markieren den Übergang von Diskriminierung und Entrechtung von Jüdinnen und Juden zur systematischen Verfolgung, Beraubung, Vertreibung und schließlich Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden.
Es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass es sich bei dieser unvorstellbaren Zahl um konkrete Menschen - Männer, Frauen und Kinder - handelt, die einen Namen, eine Geschichte, ein einzigartiges und unverwechselbares Leben hatten - nicht um Nummern, wie sie die nationalsozialistischen Schergen den Menschen in die Haut brannten. Denn es sind konkrete Biografien, Erzählungen von Menschen, die unabhängig von der zeitlichen Nähe das Ausmaß dieses Schreckens bewusst machen.
Für Juden und Jüdinnen ist die Erinnerung an einzelne Menschen ein zentraler Teil der Gedenkkultur. Denn der Name jeder Person, und damit jede Biografie, jedes einzelne Leben ist unauslöschlich bedeutsam. Niemand darf vergessen werden, und sei seine gesellschaftliche Position auch noch so unbedeutsam. Bereits in der Hebräischen Bibel finden sich so lange Namenslisten und viele Lebensgeschichten - denn für Gott zählt jeder Mensch; ist jeder Mensch sein Abbild.
Aber ob religiös oder nicht religiös: Eine solche Art des Gedenkens kann für eine Gesellschaft eine Inspiration sein, in der man gewöhnt ist, Menschen in Studien oder Statistiken zu gesichts- und namenlosen Kollektiven zusammenzufassen - "die" Frauen, "die" Arbeitslosen", "die" Muslime". Denn es sind die konkreten Geschichten, die erkennen lassen, dass das Leben jedes einzelnen Menschen wertvoll ist. Mitgefühl und Verständnis werden gefördert. Durch Identifikation lernt man etwas für das eigene Leben. Man merkt, dass das Handeln eines einzigen Menschen einen Unterschied machen und gesellschaftlich etwas bewirken kann. Sich an Personen und deren Namen und Geschichten zu erinnern, macht die Gesellschaft menschlicher.
Service
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Franz Schubert
Titel: Streichquartett d-Moll D 810 "Der Tod und das Mädchen" (1824)
* Allegro 11.37
Ausführende: Minetti Quartett
Solist/Solistin: Maria Ehmer /Violine
Solist/Solistin: Anna Knopp /Violine
Solist/Solistin: Milan Milojicic /Viola
Solist/Solistin: Leonhard Roczek /Violoncello
Länge: 40:46 min
Label: Bärenreiter
(Kaufmaterial)
