Heimkehrer, Fluchtgeschichten

Rückkehr nach Wien

Von: Friedl Benedikt | 18. März 2025, 15:09

Die Schriftstellerin Friedl Benedikt kommt im Sommer 1950 erstmals zurück nach Wien. Am 2. September besucht sie im Geheimen ihr arisiertes Elternhaus.

2. September 1950
Gegen Abend wanderte ich die steile Straße, wo wir früher gewohnt haben, hinauf – nicht den Weg auf der Rückseite, wie ich es bisher getan hatte. Ich wusste, dass die Amerikaner eine Familie in unserem Haus einquartiert hatten, und erwartete, dass das Gartentor und das Haus versperrt sein würden. Aber das Tor war offen. Ich trat ein und schlich auf Zehenspitzen zum hinteren Garten, weil ich Angst hatte, jemandem im Haus zu begegnen und ausgefragt zu werden. Seit Jahren hatte sich niemand
um den Garten gekümmert, und nun war er eine Wildnis
aus Blumen, Brennnesseln und Gebüsch. Ich konnte mich kaum zurechtfinden, aber einige Bäume stehen noch, die ich allmählich wiedererkannte. Unser Garten grenzt an die Weingärten, und von seinem hinteren Ende aus hat man einen Ausblick über die ganze Stadt. Das weiß ich, aber schon jetzt, um ein Uhr nachts, kann ich mich nicht mehr erinnern, es gesehen zu haben. Ich ging wie von Blindheit geschlagen durch den Garten. Ich sah nichts, außer dass der Weg von dicken, kratzigen Brennnesseln und Unkraut überwuchert war, und weiß nur, dass ich den genauen Ort, an dem ich stand, nicht bestimmen und erkennen
konnte. Ich schlüpfte durch die Hintertüre ins Haus und ging die Stiege hinauf, ohne jemandem zu begegnen. Oben waren alle Zimmer leer. Die Familie, die jetzt im Haus wohnt, benützt nur den unteren Stock. Und auch hier konnte ich die Zimmer nicht wiedererkennen. Das Schlafzimmer meiner Mutter, das früher groß und sehr hell war und einen Balkon hatte, war bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft. Der Balkon war weg. Unser Kinderzimmer wiederum, das in meiner Erinnerung ein mittelgroßer Raum war, hatte nun die Größe eines Saales. Das kleine Zimmer, in dem die Schneiderin immer saß und nähte, war nur ein Winkel voller Spinnweben. Das Schlafzimmer meines Vaters, einst ein riesiger Zeitungs- und Bücherstapel, war unerwartet hell mit sehr großen Fenstern. Das Zimmer, in dem ich später
wohnte, als ich schon älter war, hatte sich ebenfalls verändert, so dass ich es nie erkannt hätte. Wo sind die Fenster, aus denen man auf das Haus an der gegenüberliegenden Straßenseite sah,
in dem das Licht nie ausging, und wo ich den Schwarm Mücken beobachtete, der in warmen Sommernächten durch ein offenes Fenster hereinflog und von dem ich den Schatten sah, ein riesiger haariger Kopf, der sich um die Lampe bewegte? Jetzt sind da nur noch zwei Fenster, die auf den Garten gehen, und mein Balkon ist auch weg. Ich ging zwischen den Räumen hin und her, aber wurde nur immer verwirrter. Alle Proportionen hatten sich verändert und waren auf den Kopf gestellt, als hätte sich das ganze Haus umgestülpt. Dann stieg ich auf den Dachboden
hinauf, zu den Zimmern der Hausmädchen. Sie waren
unverändert. In einem davon, wo das Fenster fast bis zum Boden reicht, setzte ich mich auf den nackten Boden und sah auf die Baumkronen hinaus. Dann schlich ich aus dem Haus und ging leise davon, damit mich niemand sah und erkannte.

Umgebungskarte "Heimkehrer"

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