Fluchtgeschichten, sonstiges
The Elephant In The Room
Von: Angelika Beer | 12. Oktober 2025, 21:37
Angelika Beer erzählt über ihre Familiengeschichte aus der Iglauer Sprachinsel ( heute Cz) und das tragische Ende 1945 in einem erweiterten historischen Kontext. (Teil 2)
Das erste Mal von Alois Beer erfahren hatte ich im handschriftlichen Testament seines Onkels, des ehemaligen Ehrenbürgers von Iglau, Johann Beer, das ich im Jahr 2022 mit vielen anderen Originaldokumenten geerbt hatte. Johann Beer hatte in den Jahren 1897 bis 1899 zwei Zinshäuser mit je 5 Wohnungen in Iglau errichtet, die immer noch stehen. Alois war der Verwalter eines der Häuser. Er, seine Schwester sowie drei Cousinen waren Erben dieser Häuser. Eine dieser Cousinen ist Amalie, meine Urgroßmutter. Sie starb 1985 in Wien.
Mali war aus ihrer Iglauer Wohnung als letzte geflüchtet, nachdem die Familie ein paar Tage zuvor noch über die Grenze kommen konnte. Hier gibt es die Geschichte, dass mein Großvater sie mit einem Miet- Kleintransporter in letzter Minute abholen konnte, nachdem ein Anruf oder Telegramm eingegangen war: „Hol uns hier raus, die bringen uns sonst alle um“. Das einzige, was sie von 500 Jahren Iglauer Familiengeschichte mitnehmen konnten, war eine kleine, silberne Standuhr.
(Zur Erklärung: die Parkgasse, heute Tyrsova, in der sich die zwei Zinshäuser der Familie Beer befinden, wurde von den russischen Alliierten zuerst besetzt, also bereits einige Tage, bevor die wilden Vertreibungen losgingen.)
Nachdem ich die Dokumentenmappe aufgearbeitet hatte, fuhr ich das erste Mal nach Iglau. Ich fand das Ehrengrab, das der Hauserbauer Johann Beer im Jahre 1930 als Gruft für die Familie errichten ließ, für das er der Stadt Iglau 60 000 Kronen in seinem Testament hinterlassen hat, damit es „immer ansprechend gepflegt sei“.
Ich fand es grün überwuchert und alle Inschrifttafeln fehlten, ebenso wie die Messingumfassungen. Im Jahr 1945 gab es heftige Panzergefechte zwischen „Deutschen“ und Tschechen und Russen vor dem Iglauer Friedhof, wobei sich Kämpfende auch im Friedhofsgelände verschanzt hatten.
Namen auf alten, deutschen Gräbern lesen sich heute noch wie ein Wiener „Who is who“: Manner, Heller, Löw, Beyer, Lang, Seifert, Maschek, Radnitzky…. Und insgesamt finde ich dort 6 Gräber, die ich meinen Vorfahren zuordnen kann.
Ich erinnere mich noch an das mulmige Gefühl in der Nacht, bevor ich das erste Mal nach Jihlava gefahren war. Fast war es eine Angst. Traumata vererben sich, hat die Wissenschaft bewiesen. Gerade das sollten wir in die Verantwortung miteinbeziehen, die wir haben, wenn wir die vielen gegenwärtigen Krisen und Kriege beurteilen und als Gesellschaft Lösungen suchen wollen.
Eingefrorene Emotionen warten manchmal bis auf die Enkel- oder Urenkelinnengeneration, um durchlebt und anerkannt zu werden. Das ist notwendig, um so wirklich zu einem Loslassen zu kommen, das neue Blickwinkel auf beiden Seiten ermöglicht. So können neue Friedenslösungen und Friedensordnungen entstehen, die bisher undenkbar waren.
Der Elefant hat seinen Rüssel gehoben, heftig aufgestampft und sein enges Zimmer verlassen.
Angelika Beer
20.5.2025
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