Fluchtgeschichten, sonstiges
The Elephant In The Room
Von: Angelika Beer | 12. Oktober 2025, 21:32
Angelika Beer erzählt über ihre Familiengeschichte aus der Iglauer Sprachinsel ( heute Cz) und das tragische Ende 1945 in einem erweiterten historischen Kontext (Teil 1)
THE ELEPHANT IN THE ROOM
The Elephant in the Room, das ist wohl etwas, was jede Nachfahrin, jeder Nachfahre von nach Ende des zweites Weltkriegs vertriebenen Deutschsprachigen kennt. Und es sind viele, allein aus dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik sind es rund 3,5 Millionen Menschen, die zuvor jahrhundertelang in der österreichischen Kultur zutiefst verwurzelt waren.
Es soll ihnen heute, zum 80jährigen Gedenken des Kriegsendes, eine Stimme gegeben werden- der Elefant darf tief durchatmen und sein enges Zimmer verlassen.
Jahrhundertelange Verwurzelung an einem Fleckchen Erde, von dem man lange Zeit sehr wenig wegfuhr oder wegfahren konnte, prägt. Oft sehr alte Familiengeschichten wurden in wenigen Wochen ausgelöscht. Personen, Verwandte, Freunde, verschwanden in Lagern und man hatte nie wieder etwas von ihnen gehört. Einige wenige schafften es vor den „wilden Vertreibungen“ zu Fuß über die Grenze, nachdem sie alle ihre Besitzungen verloren hatten. Sie wurden nur durchgelassen, weil sie in der Zwischenkriegszeit bereits einen österreichischen Pass besessen hatten.
Viele andere wurden vom Mob, der unter Federführung der russischen Soldaten und Beteiligung von Tschechen, die aus Innertschechien in zu Phantasiepartisanenuniformen umgestalteten ehemaligen Naziuniformen kamen, im Gewaltrausch und oft unter Alkohol aufgestachelt , erschossen, weil sie sich weigerten, ihre Wohnungen zu verlassen. Andere wollten sich in dieser Situation, wo nach Beneschs Ansprache in Brünn am 13.5.1945 klar war, was mit ihnen geschehen würde, dieses kleine bisschen Würde und Selbstbestimmung behalten und setzten ihrem Leben, oft des Nachts, selber ein Ende.
Dies als ausnahmslos umfassendes „Schuldeingeständnis“ zum Nazi Terrorregime zu fehlinterpretieren, halte ich für eine Verkürzung- man könnte es etwa auch als Liebe zum Heimatort oder tiefe Verwurzelung, sehen.
Für diese Personen begann der eigentliche Krieg erst NACH dem 8.5.1945, in Städten, die weitgehend vom 2. Weltkrieg unzerstört blieben. Auch Ereignisse wie der Brünner und der Iglauer Todesmarsch oder die Grausamkeiten in Prag oder die Massaker in Aussig nur mit den „Wirren der Nachkriegszeit“ abzutun, ist mir zu ungenau. Es birgt zu viel Wegschauen, um eine klare Analyse zu ermöglichen. Dies mag zu einem Großteil auch der kommunistischen jahrzehntelangen Indoktrinierung geschuldet sein. Trotzdem fehlt bis heute eine gemeinsame Erklärung der tschechischen und deutschen Historikerkommission zur tatsächlichen Zahl der Toten und eine Würdigung oder zumindest Sichtbarmachen ihren Begräbnisstätten, allzu oft sind es Massengräber. Diese gibt es in fast jeder tschechischen Stadt oder Region, die zuvor von einer überwiegenden Zahl an Deutschsprachigen bewohnt (und oft Jahrhunderten zuvor auch zu einem Großteil von ihnen errichtet) worden war. Meist sind sie der dort ansässigen Bevölkerung nicht einmal bekannt, und in kleinen Infoblättern der Touristenverbände werden die Friedhöfe, zum Beispiel von Brünn, oft so präsentiert, als ob sich dort vor allem historische tschechische Gräber befinden, was keiner Faktenüberprüfung standhält. Der Hinweis auf überwiegend deutschsprachige Bevölkerung fehlt oft in den tschechischen Museen heutzutage, der Begriff „Iglauer Sprachinsel“ kommt im heutigen Museum Vysocina, also das Iglauer Regionalmuseum, seit der Renovierung nicht mehr vor, die alte zweisprachige Karte der Region wurde abgehängt. Im Olmützer Diözesanmuseum befindet sich ebenfalls kein Hinweis auf die ehemalige deutschsprachige Bevölkerung, die immerhin rund 50% ausmachten, sowie darauf, dass der Olmützer Dom der Krönungsort Kaiser Franz Josefs war.
Ja, die österreichisch- ungarische Monarchie hatte sich über sehr lange Zeit über ein ungleich größeres Gebiet als die heutige zweite Republik erstreckt, und in vielen Regionen hatte sich seit Anbeginn eine eigene Kultur entwickelt, und auch das ist ein Teil unserer heutigen Identität geworden, der zu oft unbekannt ist. Als ein Beispiel nenne ich die in den ersten Jahrzehnten der zweiten Republik beliebten Kabarettisten mit jüdischen Wurzeln Maxi Böhm, Ernst Waldbrunn und Guido Wieland, die allesamt im sogenannten „Sudetenland“ aufwachsen waren oder ihre künstlerisch prägenden Jahre dort verbracht hatten. Mit ihrem Stil, ihrem Esprit und auch ihrer Skurrilität, die sich Freiräume nimmt, die vielleicht nur entstehen konnten, weil die Residenzstadt lange Zeit sehr sehr weit weg war, prägten sie als Rückkehrer oder als ehemalige „Flüchtlinge“ den Aufbau einer „modernen“ Identität im Österreich der Nachkriegsjahre, die so dringend benötigt wurde, um ein einen Neuanfang zu schaffen. Sie sind Teil unserer gemeinschaftlichen DNA geworden.
Aber zurück in die Nacht vom 13. auf den 14.5. 1945 in einer Iglauer Innenstadtwohnung.
Sie greifen zu einem Material, das halten muss, das das Gewicht eines ganzen Menschen, eines ganzen Lebens, aushalten muss. Sollen es die im über Generationen erlernten Handwerk, die selbstgemachten Geigensaiten sein? Oder schneiden sie zu schnell, zu tief in den Hals, sodass doch einem Seil der Vorzug gegeben werden soll?
Das Paar berät sich, weint, hat Angst, draußen wütet es unaufhörlich. Sie trösten sich, umarmen sich, versichern sich ihre Liebe.
Sie beerdigen nicht nur sich selber, auch das alte Handwerk in dieser zutiefst musikalischen Stadt an der Grenze von Böhmen und Mähren- die Stadt, in der Gustav Mahler groß geworden ist, die schon in der Reformationszeit, in der sie ein Verbreitungspunkt geworden war, eine große Musiktradition hatte, in der es eine Meistersingerschule gegeben hatte. Die der charismatische Prediger Paul Speratus, der der einzige evangelische Prediger im 16. Jahrhundert im Wiener Stephansdom gewesen war, im Sturm in der lutherischen Lehre eroberte, bis er verwiesen wurde. Er sollte ein Leben lang „seinen Iglauern“ im Briefwechsel äußerst verbunden bleiben und sie ermutigt haben, wie in Salzburg etwa ein Josef Schaidberger in seinen berühmten Sendbriefen an die österreichischen Geheimprotestanten, einer Überzeugung treu zu bleiben, die damals auf der Höhe der Zeit war. Es war eine Gesinnung, die Eigenverantwortung und Bildung in den Mittelpunkt rückte, und dies wurde in Luthers Schriften den Adeligen, die in den meisten Erblanden zu 90% protestantisch waren, zur Verpflichtung: Jedes, (zumindest männliche ) Kind sollte lesen und schreiben lernen. In Loosdorf, im Einflussbereich der Erbauer der Schallaburg, den Losensteins, gab es eine Schulordnung, die heute höchst modern wirkt: Verbot von Züchtigungen bzw. körperlicher Bestrafung, Ermutigung zum Lernen durch Weckung der Eigeninitiative und Lust am Lernen, eine tägliche Musikstunde, Mehrstufenklassen. Das Narrativ, Maria Theresia hätte die Schulpflicht eingeführt, wird so Lügen gestraft- durch den „Brain Drain“ der Gegenreformation wurden alle diese Schulen geschlossen und der Analphabetismus erreichte auf sehr lange Zeit wieder Höchstwerte. Die Landschaftsschulen, die beinahe Universitätsniveau erreicht hatten ( protestantische Universitäten waren im Habsburgerreich nicht erlaubt), wurden geschlossen. Kepler lehrte nicht mehr in Graz.
Iglau war aber nicht nur die erste Stadt in Mähren gewesen, die sich zum lutherischen Glauben bekannt hatte, sie war vor allem jahrhundertelang die Tuchmachermetropole der Habsburgermonarchie. Es war eine Stadt der Bürger, die so zu Wohlstand kam- Tuch war damals das zweitkostbarste Handelsgut.
Und nun zurück in die Iglauer Innenstadt im Jahr 1945.
Der Mann, der in den frühen Morgenstunden des vierzehnten Mai zitternd zwischen Geigensaiten und Seil schwankt und entscheiden muss, ist Alois Beer, mein Urgroßonkel. Seine Frau ist Marie, geborene Pischkova. Sie wählen das Seil und ihr eigenes Schlafzimmer für diese letzte, schreckliche und abgrundtief finstere Tat.
Aus Erinnerung von ihm zu erzählen, ist unmöglich. Für viele ist auch das nun wieder eine Geschichte mehr, die den Elephant in the Room nährt. Für mich ist es ein Teil meiner Wurzeln.
Ich erinnere mich noch, als ich 2022 das Mail mit seiner Todesanzeige von der Leiterin des Iglauer Archivs erhielt. Es war ein eingescanntes handschriftliches Dokument unter detaillierter Schilderung der Umstände. Es traf mich in Mark und Bein. Ich war gerade in Lübeck auf Urlaub und ging in den Dom, um einen Platz für meinen Schmerz und meinen Schrecken zu finden. Dort war gerade eine Gedenkinstallation für Opfer und Vertriebene des Ukrainekriegs. Es befand sich eine kleine Insel aus Sand im Seitenschiff, umgeben von kleinen, dekorativen Steinen und Kerzen. Ich schrieb Alois und Marie, 13.5.1945, in den Sand und zeichnete einige Wellen und einen Fisch, stelle zwei Kerzen dazu.
Das erleichtert mich nach einiger Zeit.
Die Cousine von Alois Beer war Amalie, meine Urgroßmutter, die Mali- Oma. Sie war eine derjenigen, die zu Fuß über die Grenze flüchteten und durchgelassen wurden, weil sie vor dem zweiten Weltkrieg eine österreichische Staatsbürgerschaft gehabt hatten. Über Iglau konnte sie zeitlebens fast nie sprechen, auch von einem Cousin namens Alois hatte ich nie etwas erfahren.
Ihre Erinnerungen und die so vieler anderer landeten im Futtertrog des Elefanten im Raum.
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