Besatzungsmächte , Fluchtgeschichten
Die Landkarte der Vergänglichkeit
Von: Johann Grabner | 26. März 2025, 20:13
Dieser Text thematisiert die Erinnerungen meiner Mutter an das Ende des 2. Weltkriegs in der Nähe von Bad Zell, damals Zell bei Zellhof.
-- Die Landkarte der Vergänglichkeit (Ausschnitt) --
Großelterndackel heißen immer und ewig Waldl („Woidl“ gesprochen), mögen sie noch so oft von Jägern gemeuchelt werden oder sonst irgendwie verlustig gehen: Ihre Inkarnation hört stets auf denselben Namen – soweit sie bereit ist zu hören.
Einmal gab es eine Zeit, da hat der Waldl nicht Waldl, sondern Hasso geheißen. Und dieser war ausnahmsweise, der Name verrät es bereits, kein Dackel, sondern ein Schäferhund.
Das Hasso-Zeitalter fällt mit der Anwesenheit der Russen zusammen. Also mit jener Zeit, als die Befreier vom Faschismus das Land besetzt hielten.
Meine Mutter, damals noch im Hause ihrer Eltern wohnend, wusste aus dem Hasso-Zeitalter beiläufig das zu berichten:
Eines Tages fuhr ein Lastwagen mit Russen vor ihrem Hofe vor, hielt an, und die mitfahrenden Uniformierten sprangen von der Ladefläche. Meiner Großmutter gegenüber vorgebend, das Haus nach Bildern des schnauzbärtigen Gröfaz (=größter Feldherr aller Zeiten) durchsuchen zu müssen, Befehl ist Befehl; und der Kampf gegen den Gröfaz beginnt beim Kampf gegen sein fotografiertes Konterfei, das nun verboten war, nachdem sein 1000-jähriges Reich nach zwölf Jahren das Zeitliche gesegnet hatte.
Wohl hatten sie nirgends ein derartiges Bildnis entdecken können. Doch zum Kuckuck, zwei Hosen aus dem großväterlichen Kasten trug einer unter dem Arm; waren ihm anscheinend faschistisch vorgekommen: Folglich beabsichtigte er, diese Beinkleider mitzunehmen.
Wem das absolut nicht gefallen wollte, war die Großmutter. Worte gingen hin und her, begleitet von einem gewissen Gezerre um die Hosen.
Waldl, vulgo Hasso, hatte das alles argwöhnisch beobachtet, bis er schließlich - ein Wächter ist eben ein Wächter, Maschinenpistolen behangener Russe hin oder her - den Hosenträger von vorne ansprang.
Dieser, auch nicht von Pappe, zückte seine Waffe und wollte dem Hasso ans Leben. Die Großmutter, sich in die Schusslinie stellend, versprach die Hosen Hosen sein zu lassen – womit sie ihres Bellers Leben gerettet hatte. So nahmen die Hosen ihren Weg in Richtung Sowjetunion.
Womit über die Ära Hasso noch längst nicht alles gesagt ist: Mitte Juni 1945 hatten die Russen in Zell bei Zellhof wie auch andernorts amerikanische Truppen abgelöst, die zwar zu Kriegsende diesen Teil des Landes befreit, sich aber nach der Niederlage der Gröfazler einem Abkommen zufolge über die Donau zurückgezogen hatten.
Am Tage des Einrückens der Russen hatte meine Mutter mit ihren damaligen 17 Jahren nichts Besseres zu tun, als mit dem Fahrrad nach Zell bei Zellhof zu radeln, mit der Absicht, dieses und jenes zu besorgen. Samt Armbanduhr und Jungfräulichkeit hielt sie dem Markte zu. Die Russen, das wusste jeder vom Frischgeborenen bis zum Uropa, raubten alles was nach Uhr ausschaute – Taschenuhren, Armbanduhren, Kuckucksuhren, Sonnenuhren, Kirchturmuhren; ebenso frech entwendeten sie Fahrräder – ob Herren- oder Damenräder war ihnen einerlei. Zu ihrem Beutegut zählte vor allem die Unschuld junger Frauen.
Meine Mutter radelte trotz händeringender, händezusammenschlagender, kopfschüttelnder, Warnungen ausstoßender Nachbarinnen und Nachbarn munter auf Zell zu. Mit dem Zeitmessgerät am Arm, das sich in gewissen russischen Sammlerkreisen einer großen Beliebtheit erfreute.
Radelte an einem kantinedampfenden, Pferde bewieherten, russisch gestikulierenden Soldatenlager vorbei, radelte gemütlich vorbei, um nicht zu sagen langsam: Zu schnelles Fahren hätte sich kaum mit ihrer Neugier vertragen.
Radelte so am Lager der Soldaten vorbei, sagen wir einmal unbehelligt, vielleicht sogar unbeachtet.
Rollte auf ihrem Damenrad in den Ort hinein, kaufte dieses und jenes, um daraufhin fröhlich wieder heimwärts zu treten.
Kaum hatte sie das russtikale Lager in die Gegenrichtung passiert, folgten ihr zwei Soldaten zu Pferd. Hatten sie alsbald eingeholt die beiden, Offiziere hoch zu Ross, erkundigten sie sich nach dem Weg nach Gutau, und „Bitte und danke schön“ trabten sie ihrem Ziele entgegen.
Jeweils an der nächsten Kreuzung auf sie wartend, erkundigten sich die beiden noch zweimal „Bitte und danke schön“ bei meiner Mutter, ob sie nicht vom rechten Weg abgekommen wären.
Meine Mutter kam so zuhause an, wie sie dieses verlassen hatte. Inklusive der gekauften Waren, versteht sich.
In Hassos Zeitalter fällt auch dieses Ereignis – die Russen sind da wieder einmal nicht unbeteiligt:
Einmal wöchentlich, so will es die mütterliche Geschichtsschreibung, tauchte ein Russe am großelterlichen Hof auf: der „Soviel Eier soviel Schilling“- Russe. Er hatte den Auftrag, für seine Vorgesetzten einzukaufen, in diesem Falle, Eier.
Die Russen, diese fleischgewordenen Bösewichte, Inkarnation frechen Gesindels, Prüfstein der Mühlviertler Gutmütigkeit, hatten hierzulande gestohlen, geraubt, vergewaltigt und weiß Gott welche Untaten begangen. Betraten sie jedoch meiner Großeltern Heim, so wandelten sie sich in freundliche, Küss-die-Hand- gnädige -Frau-Kavaliere, in redliche Eier kaufende Händler. Einen Schilling pro Ei.
Der Soviel- Eier-Soviel-Schilling –Russe bekam seine ungeborenen Hühner, bezahlte brav soviel Eier soviel Schilling und eilte heim ins russisch gestikulierende Lager, um seine erstandene Ware in eine wohlschmeckende, krafteinflößende, dotterstarke, fettpreisende, eiweiß-strotzende Speise zu verwandeln.
Erschien dieser Soldat in ihrer Stube, sprach meine Großmutter zu ihrem Herzen: Jubiliere!
Immerhin, es fuhren Schillinge in ihre Geldtasche ein; und die waren zu dieser Zeit rar gesät, sehr rar sogar.
War das ein Sonntag, Halleluja noch einmal!
Aus dem Nachbarland, der Tschechoslowakei wurden zu jener Zeit unzählige Menschen vertrieben, oder sie flohen von dort, um ihrer Vertreibung, zuvorzukommen, nur weil ihre Muttersprache dieselbe war wie jene des gröllenden, Endsieg verkündenden Schnauzbarts.
Zumeist nächtens erschienen sie vor dem großelterlichen Hof, klopften an Fenster oder Tür, um ein Nachtlager und Füllstoff für ihren Magen zu erbitten. Die Gewährung dieser Bitte gehörte zu den Selbstverständlichkeiten des Hauses.
Fragen nach dem Woher und dem Wohin zu stellen wäre nicht in den Sinn gekommen: Da war ein hungriger Magen, ein müder Mensch. Das waren die Tatsachen.
Fragen machten nicht satt, gewährten keine Erholung.
Zu Kriegsende hatten hier genauso durchziehende SS-Männer ein paar Tage Erholung gefunden. Hatten in dieser Zeit einander ihre Tätowierung aus der Achselhöhle geschnitten.
Nun waren Sudetendeutsche die Hilfe Suchenden.
Wanderten diese Vertriebenen tagsüber weiter, so trugen sie Gabel, Rechen oder Sense mit sich, um allenfalls misstrauischen russischen Soldaten nicht verdächtig vorzukommen: Sie sollten für ansässige Bauern gehalten werden, unterwegs zur Feldarbeit.
Im alleinstehenden Bauernhaus meiner Großeltern waren die letzten Kriegsmonate und die Zeit danach mehrere Ausgebombte aus Wien untergebracht gewesen. Hatten sich hier mit aller Selbstverständlichkeit wie den butterüberladenen Broten und dem Sonntagskaffee, den fetttriefenden, kalorienüberbordenden Schnitzeln, den Rosinen durchtränkten Germ-Honig-Dahinschmelze-Guglhupfen meiner Großmutter, Marke Direktimport aus dem Paradies, aufpäppeln können.
Würde eines Tages bekannt werden, dass sich selbst der Liebe Gott diesen Guglhupf in sein Reich über den Schäfchenwolken hat liefern lassen, würde mich das nicht im Geringsten verwundern.
Die Gastschläfer ruhten in der guten, alten von Speckduft gegerbten, tarockspielgeeichten Stube, mit der Pendeluhr als Herzschlag des Lebens.
Eines Nachts hatte wieder eine der Frauen aufgeschrien: „Bauer, Bäuerin, da schauen Leute zum Fenster herein!“
Kurz darauf schon saßen die neugierigen Fremden am Tisch bei Suppe und Brot, eine Gruppe mit der Angst als Reisegepäck.
Nächtliche Besuche waren keine Seltenheit. Manche betraten das Haus jedoch durch die Hintertür, um es durch diese wieder zu verlassen, unbeobachtet, mit vollen Händen.
So hatten eines Nachts ein paar Männer den Braunen mit seiner fliegenden Mähne aus dem Stall geholt, des Großvaters Liebling. Und taten so, als würden sie nicht daran denken ihn wieder herzugeben; vielmehr hatten sie felsenfest vor, mit ihm zu verduften.
Wer bitte schön hätte sie aufhalten können.
Aber da war der So- viel-Eier-So- viel-Schilling-Russe. Dessen entsann sich mein Großvater. Diesen samt seinen Freunden aus dem mit Wodka gesegneten Lager würde er zu dieser nachtschlafenen Zeit herbitten, sollte sich die Diebsbagage nicht sofort eines Besseren besinnen.
Augenblicklich kehrte das Pferd dorthin zurück, wohin es zu dieser lichtscheuen Zeit gehörte: in Großvaters Stall.
Anzumerken ist allerdings: Am nächsten Morgen meldete ein Bauer aus der Nachbarschaft sein Pferd als gestohlen.
Übersicht:
Besatzungsmächte , Fluchtgeschichten
Bundesland:
Oberösterreich
Übersicht:
Gemeinsam erinnern