Frauen, Mütter, Kinder

Kind nach 1945

Von: Alice Harmer | 25. Juni 2025, 00:57

Auszug aus dem Buch: Alice Harmer „Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder Die Nachzüglerin"

Der Winter 1945/46 war kalt wie nie zuvor.
Ausgerüstet mit schwerem Mantel aus Gummi, Haube und Stiefeln aus Leder, trat der Mann in die Pedale, lenkte das Rad vorsichtig über hartgefrorene, holprige Erde. Die Beiwagenmaschine, die er sich als Geselle erspart und im Stroh verborgen hatte, konnte er nicht mehr finden. Im Krieg ging vieles verloren. Als der gute Bürger zur Landesverteidigung befohlen wurde, musste er seine Familie verlassen. Unter Militärkommando war er fünf Jahre lang unterwegs in Italien, Frankreich, Belgien, Ungarn bis vor Stalingrad, um dort von Granatsplittern niedergestreckt zu werden. Sein Auftrag: Vieh zu arisieren und daraus Gulasch zu kochen. Die Erinnerung an Bäuerinnen, die ihre einzige Kuh festhielten und sich mitschleifen ließen, haftete jahrzehntelang an dem Soldaten, die verzweifelten Bitten, erschütternden Klagen, hallten in seinem Ohr. Nach Ende des Krieges trug er im Rucksack sein eigenes Werkzeug. Wahlweise stieg er vom Rad, öffnete ein Tor und bot seine Dienste als Schlächter an.

„Eins zwei drei ...“ Kinder rannten in alle Richtungen, sie spielten Verstecken. Im Streckhof fanden sie schattige Winkeln, Holzverschläge, finstere Schuppen, leere Ställe. Während des Krieges waren alle Kühe, Schweine, Hühner, Enten, Schafe konfiziert worden und für Heeresnnahrung verwertet. Die Rösser mussten marschieren und Lasten tragen. Nur brave Hunde überlebten.

Das Baby lag zuerst im Wäschekorb, dann in einem Bettchen auf Rädern, draußen im Hof. Daneben scharrten ein paar Hühner Regenwürmer aus der Erde. Das Kind plärrte. Ein großes Mädchen sollte es beruhigen und schaukelte, wippte, schüttelte das Gefährt immer heftiger bis es umkippte. Dann war es still. „Ich mag diese Puppe nicht“, heulte die Elfjährige später. Mutter hatte versprochen, dass die Puppe, die auf der Flucht vom Wagen gefallen war, zu Weihnachten wiedergebracht werden würde. Aber es gab keine Wunscherfüllung. Ein Schwesterchen ward geboren, ein zuerst lachendes und bald heulendes, danach ein wimmerndes. Es schrumpfte. Seine Haut verunstaltete sich mit Flecken und eitrigen Pickel, die Augen verklebten zugeschwollen. Schließlich wurde es von der Rettung abgeholt.

„Welche ist Ihre allererste Erinnerung?“ fragt die Therapeutin.
„Ich stehe auf dem Küchentisch, umringt von Augen, die mich anstarren. Ich setze mich nieder und lutsche meine Zehen.“

Die Nachzüglerin

Die Familie vermisste das vierte Kind nicht, es sei im Krankenhaus gut aufgehoben, hoffte dessen Mutter und betete jeden Abend dafür. In den Köpfen der Geschwister verblasste die Episode mit dem plärrenden Weihnachtsgeschenk.

Das Mädchen, das an einem sonnigen Tag geliefert wurde, war völlig fremd. Furchtsam blickte es aus großen blauen Augen. Heller Flaum bedeckte den Kopf, das rosa-blaue Strickkleid konnte die extrem krummen Beine nicht verbergen.

„Ich bin deine Mutter“, sagte ein freundlich lächelnder Mund „und das ist dein Vater“, der Größte mit streng gekämmter Frisur und buschigen Brauen. „Großvater“, mit gezwirbeltem Schnurrbart, „Großmutter“, eingerahmt von Blaudruck, eine Schwester, zwei Brüder ... verschiedene Namen und Gestalten.

Unruhe im Haus: ein Laufen, ein Heben und Tragen, Hacken und Rühren ... Die kleine Unbekannte wuselte zwischen Riesen und fuchtelnd verscheuchenden Armen umher. Zwischendurch fing die Mutter mit offener Hand surrende Fliegen, um sie in ihrer Faust zu zerquetschen. Das Kind, so groß wie der Hund, hielt sich an dessen verfilztem Zottelpelz fest.

Wenn die Letzte die Spiele der Geschwister störte, wurde sie von ihnen in den dunklen Keller gesperrt oder in den kackeklebrigen Hühnerstall.

Barfuß

Die Nachzüglerin, ungeduldig, wollte ihre Geschwister einholen, überholen. Sie lernte klettern. Ihre nackten Zehen hakte sie in den Maschenzaun, krallte ihre Finger an Querstreben, schob ein hölzernes Fenster zur Seite und trat in eine weiche Staubschicht. Unter niedrigen Balken lagerten Teile der Vergangenheit in Kisten: zerbrechliche Papiere mit verblichener Schrift, modrige Mäntel, unförmige Hüte, steife Stoffe, ein räudiger Pelz. Kein einziger Schatz.
Durch eine Luke hievte sie sich hinaus auf das Dach, schlich auf allen Vieren sanftpflotig wie eine Katze die steile Schräge über gerillte Ziegel und saß schließlich auf dem First. Ein Moospölsterchen. Rundum Schilf, Eternitplatten, Schindeln, Wellblech, Rauchfänge, Baumwipfeln. Endlose Aussicht. Ein Gedanke wurde zum Ziel: weit fort fliegen ... und eines Tages würden alle staunen, wenn sie die Stimme der Ausgewanderten aus dem Radio hörten.

Muttertag.
Im Sommer 1945 verließ eine Fünfunddreißigjährige den Zug, um ihren verwundeten Mann im Lazarett zu besuchen. Sie marschierte durch einen Wald, querte ein Feld, stieg über herumliegende Soldatenleichen. In ihrem Bauch krallte sich ein Embryo fest
danke liebe Mutter
dass Du mich nicht verloren hast!

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