Literatur

Plutonische Texte: SUGAR

Von: Ulrike Walner | 1. April 2020, 15:03

Isolation bedeutet Einsamkeit, aber auch Zurückgeworfensein auf sich selbst. Es ist damit auch eine Zeit, sich mit elementaren Fragen und Beziehungen zu Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart auseinander zu setzen.

„Hör auf, mit der Zuckerzange zu spielen!“
Mit der Zuckerzange spielt man nicht, mit Zucker spielt man nicht. Das ist ein Lebensmittel. Mit Lebensmitteln spielt man nicht, mit Menschen schon. Wenn du tust, was ich dir sage, bist du mein Sugarbaby. Wenn du tust, was ich dir sage, dann bist du der Kristall in meinem Leben, der Zuckerkristall.
Und wenn ich will, stecke ich dich in Wasser, löse dich auf und lösche dich aus und niemand sieht dich mehr. Ich kann bestimmen über dich - und wenn ich es will, dann leuchtest du, und wenn ich es nicht will, dann erlischt dein Licht, dann stirbst du unter meinen Händen.
Wenn du schreist, dann will ich dich nicht, dann bist du es nicht wert, auf der Welt zu sein. Ich will die Süße in meinem Leben haben, den Zucker meines Lebens, der zu mir strahlt und das Licht reflektiert und mich in weißen Glanz taucht.
Du darfst keine eigenen Farben haben und keine Form.
Ich hänge einen Zwirnsfaden in Zuckerwasser und lasse das Wasser verdunsten und du wirst Kristall oder Klumpen, das bestimme ich, denn ich habe dich gezeugt und nun zeugst du von meinem Wert. Du selbst bist nichts, du bist nichts wert, wenn du nicht die Form annimmst, in die ich dich zwinge.
Sugarbaby, du bist der weiße Staub, den ich in die Welt blase, wenn mir danach ist, und pudergleich tanzt du hilflos-schwerelos in die Richtung, in die mein Atem dich peitscht.
Ich lache, lache aus vollem Halse, und wehe, dein Staub reizt mich zum Husten, dann nehme ich Wasser und spüle dich hinunter und du wirst nichts und existierst nicht länger.
Aber wenn du, mein Sugarbaby, aus deinen Würfeln Mauern baust, bei Gott, ich warne dich! Ich reiße sie ein und finde und vernichte dich und gewaltig soll das Meer sein, das dich hinweg spült und dir deinen Platz weist als Wasser, in dem ich wate und das ich mit meinen Füßen trete.
Ich bin es, ich allein, der aus deinen Würfeln den Menschen formt, den ich haben will, den ich sehen will oder auch nicht, das entscheidest nicht du, wann du bist oder stirbst.
Zuckerstraßen baue ich aus dir, damit Ameisen dich forttragen und in ihrem Bau verteilen können, damit deine Kristalle sich nicht zu einem neuen Gebilde formen, das ich nicht will.
Das ist die einzige Form, in der du mich einmal verlassen darfst – in alle Richtungen getragen, diese Teile deines Ichs, verstreut in alle Himmelsrichtungen und niemals, das schwöre ich dir, niemals sollst du dich wiederfinden, um zu werden, was du hättest sein können ohne mich.

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