Literatur

quaranta giorni

Von: Sebastian Raho | 14. April 2020, 09:01

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1.
wir zählen tote wie punkte beim kartenspiel
kreidestrich für kreidestrich

vom türkischen bäcker im innenhof
weht kein hauch von pistazien, nichts

neues – nur ein spitzer schrei
und ein schneller schatten

turmfalken
umkreisen die häuserschluchten.

mein sohn glaubt mir nicht. er zielt
mit dem fernglas zum punkt

im eiligen himmel - atemzüge
gehören dir nicht.

2.
die gemeine amsel
ihre schwarze form erinnert tags an die nacht

wir kennen sie
auf schornsteinen, masten, giebeln…

im grauen halblicht des morgens
taucht die schwarze feder obskur

in den endlosen raum zwischen nichts und jetzt
und trifft genau die naht zwischen tag und nacht.

die amsel seziert die welt – erratisch.
amselgesang klingt wie ein wollknäuel.

wie eine kinderzeichnung…das universum
schmiert gleichungen mit fingerfarben auf blechdächer.

die amsel singt von dieser welt und eine zweite
antwortet. ein leises, wissendes echo: amsel-korrespondenz

ist bislang unübersetzt. amselsprache
ist immer noch geheimsprache.

3.
migrieren seelen wie zugvögel? man möchte meinen
die vögel werden mehr. ein pärchen besucht uns

ganz kitschig, immer zu zweit. einer isst hektisch
der andere passt auf, immer bereit zur flucht.

wir füttern ein kind, eine nachbarin und jetzt
stieglitze, und hoffentlich ihre küken.

erst hielten wir sie für entflohene kanarien
in roten masken und schwarzgelben samba-kleidchen.

wir lasen nach: 14 – 19 gramm
ist ihr leben schwer. wir nähern uns

ganz nahe, ganz nahe lockten wir sie. ich sah
ihren erdnussförmigen schnabel hungrig nehmen

was wir ihnen gaben – meine bücher sagen
es überleben die angepassten -

die überlebenden sagen: es überlebten
die behüteten, die beschützen.

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