Literatur

Der alten Dame Rache

Von: Anne Abel | 13. April 2020, 11:32

oder: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Kein Corona-Märchen?

Es war einmal eine Dame von knapp neunzig Jahren. An schönen Frühlingsvormittagen saß sie gern allein mit ihren Gedanken in ihrer Bücherecke und ließ sich die Sonne durchs offene Fenster ins Gesicht scheinen, wenn sie nicht gerade in einem Buch las. Sie hatte Glück. Für ihr hohes Alter war sie sehr rüstig und weder ihre Sinne noch ihr Verstand hatten mit den Jahren nennenswert an Schärfe eingebüßt. Es gab allerdings Tage, an denen sie sich fast wünschte, ein Hörgerät zu brauchen, weil sie dann das geistlose Geplapper aus der Wohnung nebenan einfach mit einem Knopfdruck abschalten könnte, anstatt jedes Mal aus ihrem Ohrensessel aufzustehen und das Fenster zu schließen. Oft musste sie sogar in die Küche gehen, die zum düsteren, muffigen Lichthof gelegen war, um der Wortflut zu entkommen.
Seit dem Herbst war ein alleinstehender junger Mann der Stockwerksnachbar der alten Dame. Wegen seines gepflegten Äußeren und seiner guten Manieren war er der Liebling der anderen Hausbewohner, aber sie hielt ihn für einen blasierten Schönling. In Gesprächen verstand er es, sich selbst fast unbemerkt in den Mittelpunkt zu rücken und irgendwie bescheiden zu wirken, obwohl er sich als klug, kreativ und erfolgreich inszenierte. Begegnungen mit ihm weckten in ihr immer öfter das boshafte Verlangen, ihn vom hohen Ross zu stoßen, insbesondere wenn er ihr wieder einmal versprochen hatte, die Videotelefonate mit seinen diversen Freunden nicht mehr für alle hörbar zu führen, und sich dann doch nicht daran hielt. Überhaupt gab er ihr das Gefühl, dass er – wie so viele andere auch – sie nicht recht ernst nahm, nur weil sie alt war.
Eines Abends hatte sie endgültig genug von den ständigen Wortergüssen, die aus dem offenen Fenster des Schönlings zu ihr ins Wohnschlafzimmer schwappten. Sie hatte die mit Freundlichkeit verbrämte Überheblichkeit satt, mit der er sie abspeiste, wenn sie ihn bat, doch ein wenig leiser zu sein. Sie war es leid, vertröstet zu werden wie ein dummes Mädchen, das sich Unmögliches wünscht. Wenn er sie wie ein kleines Kind behandelte, dann wollte sie sich auch wie eines benehmen. Die passende Dogge für den Streich aus dem Repertoire ihres Bruders, der ihr vorschwebte, wohnte nur ein paar Häuser weiter.
Am nächsten Morgen hörte sie ihren nicht mehr ganz so adretten und beherrschten Nachbarn im Stiegenhaus über die Sauerei vor und an seiner Tür fluchen. Das herzliche Lachen der alten Dame hallte im ganzen Haus wider. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lacht sie noch immer.

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