Literatur, Gesellschaft

Das Krönlein

Von: Helmut Emersberger | 24. April 2020, 08:15

Das Krönlein von Helmut Emersberger

Das Krönlein 9.4.2020
Sterbenslangweilig war ihr, der Fee, auf ihrem Wolkenschloss. Nicht einmal mehr das Kauen ihrer Fingernägel konnte ihr noch Freude und Kurzweil bereiten. Dabei hatte das doch immer so gut funktioniert. Plötzlich kam ihr eine Idee. „Ich bin doch eine gute Fee!“ Kurzentschlossen wand sie sich in ihr elegantestes Kleid, legte einen verführerischen Duft auf, schlüpfte in ihre silbernen Glitzerpumps und setzte sich ihr Krönlein auf. Dann schwebte sie zur Erde nieder, zückte ihren Zauberstab und fragte alle, denen sie begegnete, nach deren Wünschen. Dabei vergaß sie nie zu betonen, dass die Erfüllung dieser allerdings ein wenig auf sich warten lassen würde.
Nach viel mehr Ruhe und aller Zeit der Welt sehnte sich der Yoga-Einsteiger. Die Anarchistin aus dem Black Block forderte „Masken natürlich, mehr Masken“. Exakt gleichlautend die Wünsche des Schnitzler-treuen Germanistikprofessors und der eingefleischten Kabuki-Theater-Freundin: „Masken!“ Die Netzaffinen wollten: „Endlich Gratis-Gruppen-Chats auf WhatsApp“, „Gestreamte Festivalfilme und Kulturevents“, „mehr Home-Office“ und „Gratis Premium Pornographie“. „Möglichst weitgehende Vereinzelung, das wäre schön für uns“ – der Wirtschaftskapitän, „Angst und flächendeckende Überwachung“ – der autoritäre Staatenlenker. „Bedingungslose und unbürokratische Unterstützung für Kunst- und Kulturschaffende, sowie mehr Begegnungszonen im öffentlichen Verkehr“ – die Musikpädagogin. Der überforderte Gastwirt aus Hallstatt bat um ein Ausdünnen des asiatischen Massentourismus, und der ambitionierte Doktorand der Pharmazie meinte: „Punktuell mehr finanzielle Mittel für die Forschung.“
Aufs Äußerste konzentriert prägte sich die Fee alle diese Wünsche sorgsam ein. Von Zeit zu Zeit rückte sie ihr Krönlein wieder zurecht.
„Ich hätte gerne mehr Kurven“, sagte die Dame, die schon seit jeher mit ihrer Figur unzufrieden gewesen war, „damit ich sie besser mit anderen vergleichen kann.“ „Gefährliche Kurven“, so ein Motorsportfreund. „Volle Kurven“, der Fußballfan. Der Volksökonom entschied sich für die Entlastung der Pensionskassen und eine Spur weniger US-amerikanischen Einfluss auf die Weltwirtschaft. Die Fridays-For-Future-Sympathisantin wünschte sich bessere Luftwerte, weniger Straßenverkehr, Flieger am Boden und Delfine im Canal Grande. „Eine Sauerstoff-Dusche“, lautete die Antwort des an seinen Bürostuhl gefesselten fanatischen Nudisten. „Mehr Intensiv-Betten“ – die Sozialmedizinerin musste nicht erst lange nachdenken. „Geschlossene Grenzen“ – von manchen wie aus der Pistole geschossen.
Mit einem Seufzer schwang sich die Fee wieder zurück auf ihr Wolkenschloss. „Seltsame Anliegen habt ihr, ihr Erdenmenschen. Aber versprochen ist versprochen, euch kann und wird geholfen werden!“ Sie warf alle Wünsche in einen Topf und schwenkte noch einmal ihren Zauberstab. „Es sei!“ Danach legte sie sich erschöpft auf ihrem Himmelbett zur Ruhe und schloss die Augen. „Ach, was bin ich doch für eine gute Fee! Alle werden glücklich sein!“, war ihr letzter Gedanke. Dann fiel sie sofort in einen tiefen, tiefen Schlaf und träumte sanft von ihrem Krönlein…

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