Literatur, Gesellschaft

Sommer * zeit

Von: Martina Gajdos | 31. März 2020, 19:13

Polemik über Beeinflussung und Naturverständnis

Sommer * zeit

Ich strecke mich, ich recke mich. Ein neuer Tag lächelt mir ins Gesicht.
Noch einmal herumgedreht, ein paar Minuten in den Polster gekuschelt, dann stehe ich auf. Halb sieben verrät der Blick aufs Handy. Ich zieh mir was über und trete auf den Balkon hinaus.
Vogelgezwitscher.
Unglaublich.
Wie still es ist, schön still.
Ich atme ganz tief frische Luft ein. Herrlich.
Schnell macht sich Gewohnheit breit. Jetzt, wo ich – so wie viele andere Wiener und Wienerinnen – zum Zuhause-bleiben angehalten bin.
Meine Arbeit ist stark reduziert, das Home-Office einfach und bequem.
Die Sonne lugt zwischen den Dächern keck herüber. Eine ungetrübte Sonne in ungetrübter Stille. Kein einziges Flugzeug brummt über den Himmel.

Zurück im Zimmer schalte ich die Sieben-Uhr-Nachrichten ein. „… wieder die Sommerzeit …“
Was? Mir ist es nicht aufgefallen, mir ist es nicht bewusst. Verdammt! Ich drehe das Radio lauter.
„… Der menschliche Organismus wird durch die Zeitverschiebung belastet, …“ Ich erinnere mich an letztes Jahr, auch an das Jahr davor! „… Die Folge können Müdigkeit, Bluthochdruck, Schlafstörungen und Konzentrationsschwäche sein. Diese Beschwerden können einige Tage, selten sogar Wochen dauern“, sagt die Ö1-Sprecherin am Sonntag, den 29. März ins düster gewordene Zimmer.
Deswegen bin ich heute früher aufgewacht, die Schlafstörungen sind schon da! Wochen kann das nun dauern und konzentrieren werd’ ich mich auch nicht können.
Wenn jetzt noch Psychisches zur Ausgangssperre kommt. Das schaff ich nicht. Isolation UND Zeitumstellung.
Ist es nun eigentlich sechs Uhr zehn oder acht Uhr zehn, frage ich mich.
Das muss ich wissen! Ich wollte doch um Acht … Verdammt, bin ich jetzt zu spät dran? Der Tag fängt schrecklich an. Ich brauch einen Kaffee.

Die Küchenuhr steht – ganz ruhig – auf sechs Uhr elf.
Verwirrung komplett.
Ich drehe schnell den großen Zeiger einmal die Runde, der kleine läuft ein winziges Stückerl mit.
Vorgedreht heißt, die Uhr war zurück, also zu früh. Ich kenn‘ mich nicht aus. – Es ist doch eine Belastung.
Heute eine Stunde länger, nein, eine Stunde weniger zum Daheim-sein verdammt.

Der Vogel da draußen setzt zum Flug an.
Dummer Vogel, er weiß nicht, dass er zu früh dran ist.
Der Tag nimmt für ihn seinen gewohnten Lauf – ganz unabhängig von den Nachrichten und unabhängig von unserem Laufen, von unserem immer schneller Werden, von unserem…, von unserem Fixiert-sein, von unserem …, von unserem …. Uff!! Ich falle rücklings und erschöpft auf die Couch.
Die Sonne geht also zur falschen Stunde auf. Aber sie ist jeden Tag um ein paar Minuten früher dran als am vorherigen, hat man mir vorgestern erklärt.
Welchen Schaden richtet das eigentlich an?

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