Gesellschaft, Literatur

Moria Das uneingelöste Versprechen

Von: Esther Dischereit | 6. Mai 2020, 18:13

Moria, die Koalition der "Willigen" in der EU und die Aufrufe der Zivilgesellschaft. Ein 22jähriger wird von Assad und al Nusra verfolgt und ist nicht schutzwürdig.

Zeitungsausschnitte von Moria

Eine Freundin aus Österreich hat mir in einer Plastiktüte mit rotem Zip-Verschluß 10 grünliche Masken zugeschickt mit Bändern an jeder Seite.

Ich befinde mich in einem nicht freiwilligen Haus“aufenthalt“. Ein Hausaufenthalt ist keine Sperrstunde, kein Gefängnisaufenthalt, kein Versteck, oder Arrest wie er gegenüber politischen Gegner*innen angewendet wird.

Das unterscheidet mich von den Erfahrungen derjenigen, die in den Lagern auf Lesbos und anderen griechischen Inseln sitzen. Meine Netzwerke funktionieren im Prinzip. Die Menschen, die in Moria, um eines der größten Lager dort zu nennen, festsitzen, haben das nicht. Sie haben ja alles hinter sich gelassen und sind mit buchstäblich nichts als dem, was sie auf dem Leibe trugen geflohen. Sie sind „Schutzflehende“ an den Stränden Europas. Es gibt viele Schutzflehende in der Welt, und diese flehen um Schutz und sitzen in Griechenland, fast vor meiner Haustür. Was ihnen stattdessen geschah, ist eine Einsperrung hinter Stacheldraht über eine lange Zeit. Sie sind jeglicher Freiheitsrechte beraubt, können sich kaum waschen, wurden übereinander und nebeneinander gestapelt wie wir es auch in den Tiertransporten nicht mehr dulden wollen. Jean Ziegler spricht von der „Schande Europas“. Die Bundesrepublik Deutschland nahm von den 40 000 unwürdig untergebrachten Menschen jetzt 50, Luxemburg 12 Kinder auf. Die kleine Gruppe weiterer EU-Mitgliedstaaten, die zu ihren überschaubaren Zusagen steht, sieht sich jedoch aus aktuellen Gründen nicht in der Lage, sofort zu helfen. Solidarisches Europa? Bitte warten.

Ich spreche jetzt mit einer unbestimmten Verzweiflung, weil die Lage der Menschen in Moria nicht etwa unbekannt wäre. Oder die politischen Akteur*innen würden deren grauenhafte erniedrigende Behandlung leugnen. Das ist nicht der Fall. Es ist auch nicht unbekannt, dass der Ausbruch der Pandemie ein noch rascheres Handeln erforderlich macht, als ohnehin nötig, dass Eile dringend geboten ist ... nicht nur ist das Mittelmeer ein Seegrab geworden, die schöne Insel Lesbos könnte es auch werden, und zwar, das ist das besonders Erschreckende der Situation, während wir es wußten und während wir zusehen.

Das Prinzip NEIN und der billige Spargel

Der Spargel muß gestochen werden, die Erntehelferinnen kommen ins Land. Sie sind zum überwiegenden Teil EU-Bürgerinnen, für die der Knochenjob in Deutschland für einige Monate immer noch besser ist als arbeitslos oder Schwarzarbeiterin in Rumänien und Bulgarien zu sein. Das ist für die Saisonarbeiterinnen „gut“ und ebenso für einen stabilen Erdbeer- und Spargelpreis in Deutschland. Die landwirtschaftlichen Betriebe brauchen für diese Arbeiter*innen regulär keine Beiträge für die Sozialversicherung zu zahlen. Ihr gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohn schrumpft außerdem noch, weil Kosten für Unterkunft und Verpflegung abgezogen werden. Demnächst steht noch weiterer landwirtschaftlicher Bedarf an, auch das wird gelöst werden und anderes mehr. Wie kann man mit dieser Hartherzigkeit weiterleben, im Fall dieser gestrandeten 40 000 Menschen aus Prinzip NEIN zu sagen?

– V – Victory und dann die Grenze

Ich blättere durch die Papiere von Omran A. Seit zwei Jahren bemühen sich sein Bruder, dessen Arbeitgeber und andere diesen jungen Menschen in Sicherheit zu bringen. Wir waren und sind zu allem Möglichen bereit, Erklärungen abgeben, Garantien für seinen Lebensunterhalt, einen Ausbildungsplatz besorgen, alles Mögliche. Mit Schutzhelm sieht man ihn in einem Tunnel stehen, damals, als er und sein Freund Aktivisten des arabischen Frühlings wurden. Sie formen mit ihren Fingern ein V – Victory – für die Kamera. Dann rettete er Menschen aus den Trümmern als Sanitäter, fotografierte, was er sah. Der Geheimdienst stand vor den Türen seines Elternhauses, er floh und geriet in Al Nusra-Gebiet. Sie steckten ihn ins Gefängnis, weil er mit seinen 22 Jahren sagte, dass er ein Demokrat sein will und für Frauenrechte eintritt. Weiter Flucht. Die nächsten Bilder zeigen sein verquollenes Gesicht mit blau unterlaufenen Augen. Die Grenzbeamten an der türkischen Grenze schlugen ihn immer wieder. Bis einmal der Grenzübertritt gelang und seitdem ist er illegal da, wo er ist. Wir trauten uns nicht, ihn zur gefährlichen Flucht nach Lesbos zu ermuntern. Wir waren nahe daran. Er sitzt jetzt ohne jeden Beistand fernab von denen, die ihm beistehen wollten und könnten, in einem Loch in der großen Stadt und wagt sich nicht hinaus. Eine internationale Organisation bestätigte die Richtigkeit seiner Angaben, bloß sei er von Al Nusra nicht genügend bedroht worden, sie könnten nichts tun. Assad, den Geheimdienst, der schon seinen Bruder holte, und von dem seitdem niemand etwas weiß, vergaßen sie dabei. Sie tun auch nur ihr Bestes, auch hier viele Aktivist*innen, überfordert ... und da ist er, dieser Mensch Omran, der im Untergrund seinen Schulabschluß machte, wie er dem Abitur entspricht, der jetzt manchmal wen findet, der ihn stundenweise Hilfsjobs machen läßt, der gejagt ist, da wo er ist. Hätte er auf Lesbos landen sollen? Er gehört zu den Schutzflehenden. Sie sitzen vor der Tür Europas. Ich bin jetzt angesprochen, es spielt keine Rolle, ob mir das gefällt oder nicht. Ich kann auch der Tatsache nicht ausweichen, dass ich sehe.

Ich sehe ihn und ich sehe die 40 000 Schutzflehenden in Griechenland, das dem EU-Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angehört. Eine EU, die offenbar weder nach außen noch nach innen das Versprechen der Solidarität einzulösen vermag. Es nützt nichts die Augen zu schließen. Ich habe gesehen.

Die Koalition der „Willigen“ innerhalb der Europäischen Union erklärte insgesamt 1600 Menschen, Minderjährige, aufnehmen zu wollen: Frankreich 400, Deutschland 350, Finnland 175, Irland, Portugal, Bulgarien, Litauen, Kroatien, Luxemburg 12 Menschen. Die Europäische Union besteht aus 27 Staaten. Um zu begreifen, welche Tragödie sich hier auf den griechischen Inseln abspielt, bedarf es ohnehin keiner EU-Mitgliedschaft. Wohlhabende Länder wie die Schweiz, wo sind sie? Wieviele unbegleitete Kinder soll es eigentlich geben? Werden Eltern ihre Kinder preisgeben, damit wenigstens diese eine Chance haben, aus den Lagern zu kommen? 513 Mio Einwohnerinnen zählen die EU und Großbritannien und 40 000 Menschen können nicht untergebracht werden? Wieviel tausend Erntehelferinnen werden jetzt in die Bundesrepublik Deutschland eingeflogen und das ist möglich.

Die 40 000 Menschen gehören vollständig evakuiert, sie sind eines legitimen Asylrechtsverfahrens beraubt, akut gesundheitlich gefährdet und nicht selten von Gewalt bedroht. Wie soll ich darüber weiterreden. Österreich stiftet lieber schnell Wohncontainer, als die Leute ins Land zu lassen. Die österreichische Hotellerie steht still. Besser ausgelastete Hotels, und die Geflüchteten können gerettet werden als Leerstand. Schon hat ein Reeder sein Kreuzfahrtschiff zum Selbstkostenpreis angeboten, eine österreichische Hotelkette bot an, zur Krankenstation umfunktioniert werden zu können. Dann kann die Umwidmung für Geflüchtete wohl auch möglich sein.

„BürgermeisterInnen mit Herz“

Es gibt Aufrufe über Aufrufe, Bürgermeisterinnen verschiedener Länder, die aufnehmen wollen ... warum dürfen sie nicht endlich aufnehmen? Mehr als 9000 Menschen unterschrieben in Österreich, in Deutschland unterschrieb der am eigenen Leibe durch den jugoslawischen Bürgerkrieg betroffene Saša Stanišić, ein Appell der Wissenschaftlerinnen, unter ihnen Jürgen Habermas, ein Brief an Reiner Hoffmann, den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, ist unterwegs. In der Schweiz wurde der appel de la charte de la migration an die Regierung gerichtet.

Eine Vertreterin des Tourismusgewerbes schreibt dagegen warnend: „Ich würde es jedenfalls vermeiden, die öffentliche Debatte darüber anzufachen. Das Verständnis der breiten Bevölkerung für eine Öffnung der Grenzen für Dritte bei gleichzeitig verlängerter stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit und einem massivem Anstieg der Arbeitslosigkeit ohne absehbares Ende wäre enden wollend.“

Es gibt ja eine breite Öffentlichkeit, die sich äußert, trotz Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das youtube-video der mittlerweile mehr als 9000 ist ja deutlich, Jean Ziegler und Milo Rau sprachen in den Münchner Kammerspielen. Warum soll gerade ein arbeitsloser Mensch nicht verstehen, was eine Not-Evakuierung von Tausenden aus Dreck und Schlamm ist? Als wäre er oder sie durch Arbeitslosigkeit der Menschlichkeit verlustig gegangen. Geht es nicht einfach darum, wie ich mir am Morgen in den Spiegel schauen kann, und zwar gerade als einer in Not war und ich es sah. Soll ich jetzt wen weglassen? Wer bin ich, dass ich sagen dürfte, auf welche anderen Menschen kann ich verzichten? Mir fehlt hier das säkulare Vokabular: Aber kommen wir nicht alle in die Hölle, wenn wir die Katastrophe von Moria nicht beenden? Auf welchem Prinzipienaltar einer neu zu ordnenden Asylpolitik für ganz Europa werden die Belange der 40 000 jetzt geopfert, einschließlich derer, die in Bosnien strandeten?
Geschlossene Grenzen heißt der Titel des im Juli 2018 herausgegebenen Bandes, der eine Ausstellung zur Internationalen Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 dokumentiert. Wir sehen Mütter, die kleine Kinder an sich pressen, noch ein Spielzeug in der Hand, dazwischen die Koffer. Die Kindertransporte 1938/1939 gaben zehntausenden Kindern die Möglichkeit zu Überleben und ließen die Eltern zurück. Die Konferenz, gedacht zur Einigung über die Aufnahme vor dem Nationalsozialismus fliehender jüdischer Menschen, scheiterte.

Der Band liegt auf meinem Tisch, manchmal neben diesen Atemschutzmasken, die jemand übersandte, manchmal an einem anderen Platz. In Wirklichkeit öffne ich das Buch gar nicht, ich trage es von hier nach da und lege es neben die
Zeitungsausschnitte von Moria. Hier ist ein Notstand.

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