Literatur
Volksschule "Zihni Pascha", Roman, Memo Schachiner
Von: Dr. Memo Schachiner | 26. April 2020, 13:07
Ich schreibe seit 2017 einen Roman direkt im Internet in Fortsetzungen.
Abschnitt aus
Dem ersten Internet-Roman der Welt in Fortsetzungen
Volksschule "Zihni Pascha"
von Memo Schachiner
https://www.musicalconfrontations.com/MGS/LITERATUR/NOVEL/VOLKSSCHULE/volksschule.htm
REHA WIRD GEPEITSCHT
Seit wir hier wohnen bleibt die Zeit still. Ich weiß, dass es draußen eine große Welt gibt, aber sie ist für mich verborgen. Die für mich sichtbare Welt ist sehr klein: Sie besteht aus unserer Bauhütte und dem Jasminbaum. Aber auch in dieser kleinen Welt spielt sich sehr viel ab.
Ich reite und singe. Meine Mutter arbeitet im Haus. Jetzt kommt meine Mutter heraus.
"Schnell, schnell!", sagt sie. "Komm herein, das wird dir gefallen."
Ich laufe ins Haus.
Sie hat das "Radio" eingeschaltet. Wenn das Radio eingeschaltet wird, leuchtet ein blauer Punkt. Darum heißt unser Radio "Blaupunkt". Es kommt aus Deutschland. Es ist eine Holzkiste. Farbe hellbraun. Auch furniert. Es glänzt. Auf der linken Hälfte der vorderen Seite ist ein beigefarbener Stoff gespannt. Hier kommen die Stimmen heraus. Mein Vater hat mir bereits erklärt: Die Stimmen wurden wo anders in einem großen Haus erzeugt. Zu unserem Radio kommen sie durch die Luft. In der Luft können wir sie nicht sehen. Um sie zu hören, braucht man einen Radioapparat.
Unser altes Radio haben wir in Samatia, bei meiner Großmutter gelassen.
Als ich drei Jahre alt war, sind wir nach "Anadolu Hisari", so heißt die Stadtmauer auf der anatolischen Seite des Bosphorus, übersiedelt. Dort hatten wir kein Radio. Ich war Radio süchtig. Damals habe ich ständig geschrien: "Jado da Jado, Jado da Jado". Eines Tages brachte mein Vater diesen "Blaupunkt".
Links unten ist ein brauner runder Knopf. Mein Vater befriedigt meine Neugier an der Materialkunde regelmäßig: Dieser Knopf ist aus "Bakelit". Wenn wir diesen Knopf nach rechts drehen macht es "Klick" und es leuchtet der blaue Punkt. Rechts von diesem Knopf ist noch ein größerer runder Knopf. Diesen kann man nach links und rechts drehen. Wenn ich diesen Knopf herum drehe, kommen manchmal mir unbekannte Sprachen und manchmal eigenartige Geräusche heraus. Dieses Stimmengewirr heißt "Parasit".
Auf der linken Seite des Kastens gibt es nur glattes Holz. Auf der rechten Seite ist wieder ein großer runder Knopf. Auch den können wir herum drehen. Damit wählen wir zwischen Mittel- und Langwelle.
Wenn wir es länger hören, wird das Radio sehr heiß. Hinter dem Kasten ist eine schwarze Pappe mit Belüftungslöchern montiert. Daraus hängt ein mit einem braunen Stoff verkleidetes Stromkabel.
Auf der rechten Hälfte der vorderen Seite ist eine von innen beleuchtete grau gefärbte Glasscheibe angebracht. Wir sehen, wenn wir den Knopf drehen, einen roten Stab sich nach rechts und links bewegen. Auf der Glasscheibe sind auch einige Städte beschriftet: Moskau, London, Istanbul.
Bei einem bestimmten Stand des bewegten Stabs ist das "Radio Istanbul" zu hause. Wenn wir den Knopf nach rechts drehen, kommt bei einer bestimmten Stelle "Radio Ankara".
Jetzt hören wir Ankara.
Ankara ist sehr weit. Die Stimmen kommen nicht so gut zu uns. Sie werden immer wieder abgebrochen und es kommt "Parasit". Wenn Parasit länger dauert, mache ich meine Ohren mit meinen Zeigefingern zu.
Viele Jahre später würde ich erfahren, dass dieser "Parasit" nach manchen Interpreten von den Seiten des kalten Krieges zur Zerstörung der Sendung des Gegners erzeugt wurden. Andere wiederum bahaupteten, dass diese Geräusche Nachklang des Urknalls sind. Ich habe auch heute keine persönliche Meinung darüber.
Wir konnten In Istanbul die Sendungen mancher europäischer Rundfunkstationen hören. Aber die Sendungen aus Ankara wurden immer wieder vom "Parasit" überfallen. Das war eine richtige Quälerei.
Jetzt hören wir aber eine wunderbare Musik, die ich bisher noch nie gehört habe. Ich bin sofort wie berauscht und fange an, in langsamen Bewegungen zu tanzen. Erst hören wir eine Geige, dann klingt eine Harfe mit. Geigenklang kenne ich bereits. Die Harfe ist für mich neu. Ich bin völlig aus dem Haus.
Es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich erfuhr, dass wir damals einen Ausschnitt aus der sinfonischen Dichtung Rimski-Korsakow´s Scheherazade hörten. So begann die Serie von "Tausend und eine Nacht" in Radio Ankara. Es sollte einige Wochen lang jeden Tag weiter gesendet werden.
Und ich hörte jeden Tag das musikalische Signal und sang mit.
Damals lebte ein wunderbarer Märchenerzähler in Istanbul. Er hieß Eflatun Cem Güney. Er erzählte in der alten Tradition der Märchenerzähler der Konstantinopel.
"Evvel zaman icinde,
Kalbur saman icinde,
Dedem nenemin besigini,
Tingir mingir sallar iken..."
"In der vergangenen Zeit
War das Sieb im Stroh drinnen
Während mein Opa die Wiege von meiner Oma
schaukelte Tingir Mingir... (Geräusch der Wiege)"
Leider wurde er immer wieder von Parasit unterbrochen. Nicht nur von Parasit. Ich unterbreche ihn immer wieder mit meinen Fragen:
"Was heißt Harem? Was heißt Vesir? Lebt der Sindbad noch?"
"Es reicht mir aber", schrie meine Mutter. "Woher soll ich alles wissen? Ich bin nicht das Radio."
Nach einer Weile stirbt mein Interesse ab. Ich gehe wieder hinaus.
Jetzt kommt der Fahri Bey zu uns. Klopft an unserer Tür. Meine Mutter kommt heraus. Er flüstert irgendetwas in ihr Ohr. Ich höre nicht, was er sagt. Meine Mutter nickt mit ihrem Kopf und kommt zu mir.
"Komm jetzt herein", sagt sie und hält mich an der Hand. Ich schaue sie mit fragenden Augen an.
"Komm herein jetzt ", sagt sie und schleppt mich hinter sich schnell ins Haus.
"ich will aber nicht!".
"Jetzt musst du schlafen", sagt sie. Wir gehen in mein Zimmer. Jetzt steht unser Badeschemel vor meinem Kariola. Ich steige hinauf und springe in mein Bett. Meine Mutter holt ein weisses Tuch mit einem Gewebemuster. "Jetzt bekommst du eine neue Pike".
"Pike?".
Ist das Französisch? Meine Mutter hat von ihren Zieheltern viele französische Wörter gelernt. Sie spricht sie falsch aus und mein Vater korrigiert.
"Es ist jetzt viel zu heiss für die Bettdecke. Darum bekommst du eine wunderschöne neue Pike. Das gehört ab jetzt zu dir".
Wahrscheinlich gehört das zu ihrer Mitgift. Sie holt aus ihrer Truhe immer wieder neue Sachen heraus.
"Aber warum muss ich jetzt ins Bett?"
"Wegen Reha... Reha wird jetzt gepeitscht und du darfst es nicht sehen.".
"Was ist Reha?"
"Reha ist ein Bub. Er heißt so. Er ist so alt wie du. Er lebt bei unseren Hausbesitzern."
"Ist er ihr Sohn?".
"Nein. Er hat keine Eltern. Sie sind seine Zieheltern."
"Wie?"
"So wie bei mir. Damals, als meine Eltern gestorben sind, nahmen mich die "Watte Mutti" und ihr Mann auf."
"Warum haben unsere Herren Hausbesitzer keine Frau?".
"Sie brauchen keine Frau. Sie sind anders."
"Wie anders?".
"So wie dein `Dede`". Sie sind anders. Gott soll niemanden so machen wie sie sind!"
"Und warum wird der Reha gepeitscht?".
"Als Strafe. Er hat sein Bett nass gemacht."
Strafe? Gott? Bei der nächsten Gelegenheit werde ich meinen Vater fragen.
Ich schlafe ein.
Mein Vater kommt. Wir essen gemeinsam.
Nach dem Essen erzählt meine Mutter:
"Sie haben ihn in den Garten gebracht. Komplett ausgezogen. An der Säule unter dem Haus festgebunden. Dann haben die beiden ihre ledernen Hosengürtel ausgezogen. Dann haben sie ihn so lange gepeitscht, bis er ohnmächtig wurde. Er hat nicht einmal geschrien."
Mein Vater wurde nachdenklich.
"Schrecklich" sagte er. "Das dürfen sie nicht."
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