Literatur

"Felix und Marvin suchen nach Regen" (Textauszug)

Von: Kerstin Kugler | 2. April 2020, 07:34

Eine Abenteuergeschichte im australischen Outback, die von Freundschaft, Familie und Mut erzählt. 2018 mit dem Sonderpreis für Kinder- und Jugendliteratur vom Land Steiermark ausgezeichnet.

Die Felsspalte

Neben Felix regt sich etwas. Das verwaiste Kängurubaby, das er in Marvins Tasche gelegt und über ihren Köpfen an einem kleinen Ast festgemacht hat, regt sich im Schlaf. Im Beutel sieht es sicher und geborgen aus.
Hätten Marvin und er doch bloß auch so einen Beutel! In der Felsspalte ist es dunkel, unheimlich. Regen prasselt unaufhörlich auf sie nieder. Vom Himmel ist nur ein kleiner Spalt zu sehen. Bedrohliche Gewitterwolken ziehen über ihn. Blitze zucken und Donner grollt.
Marvin stöhnt vor Schmerzen. „Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis sie uns suchen?“ Seine Stimme klingt gepresst, sein Gesicht hat jede Farbe verloren.
Felix hat sich das auch schon gefragt. Sein Vater ist mit den Männern zu den Rinderweiden unterwegs. Seine Schwestern denken sicher, dass die Jungen in einem sicheren Unterschlupf das Ende des Unwetters abwarten. Ob sie erst bei Einbruch der Dunkelheit nach ihnen suchen? Felix betrachtet den großen Geröllbrocken, unter dem Marvins Fuß eingekeilt ist.
„Wie lange kannst du’s noch aushalten?“
Marvin funkelt Felix an. Ein Blitz zuckt am Himmel und taucht die Gesichter der Jungen in grelles Licht. Donner grollt laut über ihren Köpfen. „So lange ich eben muss“, faucht Marvin, klingt dabei aber gar nicht so sicher.
Ein leises Plätschern lässt Felix aufhorchen. Durch die schmale Öffnung, die zum ausgetrockneten Flussbett hinunterführt, quellt braunes Wasser. Es steigt schnell höher und schwappt über die losen Kieselsteine am sandigen Boden der Kluft. Felix starrt erschrocken auf Marvins eingeklemmten Fuß. Wenn das Wasser weiterhin so schnell steigt, bleibt ihnen keine Zeit, auf Rettung zu warten.
„Ich versuche es einfach noch mal!“ Gelassen, um seinem Freund keine Angst machen, besieht sich Felix die glatten, steilen Wände, doch sein Herz klopft vor Angst. Das Unwetter tobt ohne Unterlass und das Wasser im ausgetrockneten Flussbett steigt so rasch, dass ihm keine Zweifel bleiben. Sie werden ertrinken, wenn es ihm nicht gelingt, aus der Spalte zu klettern und Hilfe zu holen.
Verzweifelt tastet er die glatte Felswand nach etwas ab, das Halt gibt. Da, eine raue Stelle, nicht viel mehr als ein paar Millimeter. Es muss reichen. Angestrengt versucht er, sich an dem kleinen Vorsprung in die Höhe zu ziehen, doch vergeblich. Seine Finger rutschen aus und er fällt in die Spalte zurück. Mit Schrecken stellt er fest, dass sich in der Spalte in der Zwischenzeit schon eine Pfütze gebildet hat. Er sieht sich um. Das Wasser reicht ihnen schon bis zu den Knöcheln. Wie schnell es steigt! Sein Herz pocht, in seinen Ohren dröhnt es. Am liebsten würde er zu weinen beginnen. Verzweifelt legt Felix den Kopf in den Nacken und sucht die glatten Felswände nach etwas ab, mit dem sie sich aus der Spalte befreien können. Da fällt sein Blick auf eine schmale ockerfarbene Gestalt.
„Socke!“
Marvin folgt Felix‘ Blick. „Ein Dingo?“ Er runzelt die Stirn, starrt Felix entgeistert an. „Und du hast ihn Socke genannt?“ Er schüttelt den Kopf. „Du musst verrückt geworden sein! Hast du eine Ahnung, was dein Vater mit dir macht, wenn er herausfindet, dass du dich mit einem Dingo befreundet hast?!“
Felix weicht Marvins Blick aus. Soll ihn sein Freund doch für verrückt halten. Mit Socke verbindet ihn etwas, das wichtiger ist als Regeln und Verbote. Socke ist sein Freund. Und seinen Freund verrät man nicht!
Marvin legt den Kopf schief, wirft einen zweifelnden Blick auf Socke. Brackiges Wasser schwappt über seinen eingeklemmten Fuß. Seine Stimme klingt ängstlich, als er endlich spricht. „Glaubst du, er findet den Weg zur Farm und kann Hilfe holen?“
Der Dingo dreht die Ohren, blickt die Jungen aufmerksam an.




Einige Tage früher …


Eine unerwartete Begegnung

Seinen Körper eng an die raue Felswand gepresst, pirscht sich Felix langsam näher an seine Beute. Den leichten Jagdspeer, ungeschickt aus einem dürren Ast geschnitzt, hält er sicher in der Hand. Die Sonne strahlt unbarmherzig auf die Felsschlucht, durch die sich das ausgetrocknete Flussbett schlängelt. Vor Tausenden von Jahren strömte hier ein reißender Fluss durch die roten Felsen, doch die letzten Wassertropfen sind längst versiegt. So lange Felix denken kann, war die Farm seiner Eltern von karger Wüstenlandschaft umgeben. Sein Vater und großer Bruder sind auf der Suche nach neuem Weideland für ihre Rinder oft tagelang im Outback unterwegs.
Der nächste Schritt ist unvorsichtig gesetzt und löst Kieselsteine, die leise über den sandigen Boden rieseln. Felix hält gespannt den Atem an, presst sich noch enger an die Felsen und fasst den Speer fest in der Hand. Vorsichtig späht er hinter dem Vorsprung hervor. Seit den frühen Morgenstunden ist er der Spur eines Riesenwarans gefolgt. Er hat die riesige Echse zufällig hinter dem Geräteschuppen entdeckt und es waren ihm die Geschichten von Marvins Großmutter eingefallen, die den Jungen oft von den Jagdabenteuern ihrer Kindheit erzählt. Kurz entschlossen hat er den Speer genommen, den er erst vor einigen Tagen aus einem Akazienast geschnitzt hat, und ist dem Riesenwaran gefolgt. An die Weite des australischen Outbacks gewöhnt, ist Felix froh, der Langeweile des Schulzimmers zumindest für einen Tag entflohen zu sein, obwohl er weiß, dass seine Mutter ihn am Abend fürs Schulschwänzen bestrafen wird.
Aber das kommt später! Jetzt gilt es, die Echse zu erlegen, genauso wie Marvins Großmutter es in ihren Geschichten tat.
Sachte verlagert Felix das Gewicht und schiebt sich langsam die Felswand entlang. Er befürchtet, mit einer jähen Bewegung den Waran zu verscheuchen. Dann wären alle Anstrengungen und Mühen des Tages umsonst. Seit Stunden schon quält ihn der Durst und bei dem Gedanken an das Essen seiner Mutter wird ihm bewusst, wie hungrig er ist. Doch es hilft nichts. Felix beißt die Zähne zusammen und kauert geduldig hinter dem Felsen, bereit, sich bei der kleinsten Bewegung auf die graue Echse zu stürzen. Er stellt sich das Gesicht seines Vaters vor, wenn er mit der großen Echse auf den Schultern nach Hause kommt. Wie beeindruckt er sein wird, dass sein jüngstes Kind einen ausgewachsenen Riesenwaran erlegt hat. Der Sohn, der so oft verträumt im Schatten der kargen Eukalyptusbäume liegt. Der ungeschickte Angsthase, der bei weitem nicht so talentiert wie sein großer Bruder ist. Felix ist sich sicher, dass ihn sein Vater dieses Mal mit Stolz statt Enttäuschung ansehen wird.
Der Waran liegt keine zwei Meter von Felix entfernt auf einem rotbraunen Felsen in der prallen Sonne, der spitze Kopf aufmerksam auf eine kleine Spalte gerichtet. Es sieht aus, als würde er schlafen, doch dann züngelt die Echse mit ihrer langen, gespaltenen Zunge. Bei ihrem Anblick muss Felix unwillkürlich schlucken. Die Echse ist mindestens genauso groß wie er, wenn nicht größer.
Er atmet tief durch, fasst den Speer fester und pirscht sich leise näher. Die Augen des Warans sind noch immer auf die Spalte gerichtet.
Felix macht einen vorsichtigen Schritt. Ein dürrer Ast knackt unter seinem Schuh und der Waran dreht den Kopf, starrt aufmerksam in Felix‘ Richtung.
Der Junge kauert sich hin, hebt vorsichtig den Arm, der Speer schussbereit. Sein Herz hämmert vor Aufregung. Da raschelt etwas im Spinifexgras zu seiner linken Seite. Felix wirft einen kurzen Blick zur Seite, späht gespannt ins Gebüsch, doch als er wieder zum Felsen zurückblickt, sinkt sein Mut. Die Echse ist verschwunden.
Felix erhebt sich, sucht die Felswand mit seinen Augen ab. Vergebens. Der Waran ist wie vom Erdboden verschwunden. Die lange Jagd, die Anstrengungen des Tages, Durst und Hunger, es war alles umsonst.
Missmutig kickt Felix einen Stein ins Gebüsch. Bis auf die lästigen Fliegen, die vor seinem Gesicht herumschwirren, ist es wie ausgestorben.
Ein leises Geräusch hinter ihm lässt ihn aufhören. Vielleicht hat er ja doch Glück! Blitzartig dreht Felix sich um, den Arm mit dem Speer erhoben, doch beim Anblick eines jungen Dingos, der in der engen Felsschlucht vor ihm steht, gefriert ihm das Blut in den Adern.
Der wilde Dingo knurrt leise und fletscht drohend die Zähne. Einen Augenblick lang starrt Felix den Dingo starr vor Schreck an. Dann lässt er den Speer aus der Hand schnellen. Der Speer fliegt in weitem Bogen durch die Luft und Felix ahnt, dass er zu voreilig gehandelt hat. Die Waffe verfehlt das rote Fell des Dingos, schlägt mit einem dumpfen Knall gegen die Felswand und fällt nutzlos zu Boden. Felix flucht leise.
Die Flugbahn des Speers hat den Dingo für einen kurzen Augenblick abgelenkt, doch jetzt ist seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf den Jungen gerichtet. Den Kopf drohend gesenkt, die Zähne gefletscht, bewegt sich das Tier langsam auf ihn zu.
Felix geht in die Hocke, die Arme abwehrend erhoben. Das Fell des Dingos glänzt in der Sonne rot wie die Felsenwände. Nur die Pfoten und Schnauze sind weiß. Das wilde Tier ist so ausgemergelt, dass sich seine Rippen wie Messer unter dem Fell abzeichnen. Zierlich und geschmeidig, mit seinen langen, dünnen Beinen und sehnigen Muskeln sieht der Dingo wie ein Kämpfer aus. Ein Raubtier, das sich schnell und geschickt in den Felsen bewegt und seine Beute mit kräftigem Biss erlegt.
Beim Anblick des Dingos zieht sich Felix‘ Magen zusammen. Er sieht sich fieberhaft nach einem Fluchtweg um. Seit er alt genug ist, um allein durch die karge Landschaft zu streifen, haben seine Eltern ihn vor den Dingos gewarnt, die durch den Nationalpark jenseits der Schlucht streunen und sich in Zeiten der Dürre manchmal auf ihr Farmland wagen, um eines ihrer Hühner oder jungen Kälber zu reißen.
Sehnsüchtig starrt Felix auf den Speer, der nutzlos nur wenige Meter von ihm entfernt im heißen Sand liegt. Ohne Waffe ist er dem wilden Tier schutzlos ausgeliefert. Sein Herz pocht laut vor Angst. In der Entfernung kann er die grünen Scheunendächer der Farm sehen. Zu weit, um seine Schreie zu hören.
Wieder knurrt der Dingo und Felix wirft einen bangen Blick auf seine scharfen Zähne.

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