Literatur, Gesellschaft

Betreff: Kommune

Von: die Motzknolle | 5. April 2020, 09:32

Ich schreibe seit Jahren immer wieder fiktive Mails an den fiktiven Dr. N.. Themen ("Betreff"): Alles Mögliche, das mir aktuell durch den Kopf geht.
Hier ist es das Thema Entschleunigung.

Betreff: Kommune


Sehr geehrter Herr Dr. N.,


ich gründe eine Kommune. Sie wird „Mittagspause“ heißen. Warum ausgerechnet „Mittagspause“?

Im Jahr 1976 war meine Mutter Studentin. In den Ferien arbeitete sie bei der Post. Ihr Kollege, ein älterer Postbeamter, fand die Mittagspause von zwei Stunden – von zwölf bis zwei – immer etwas zu kurz. Er wollte in Ruhe nach Hause gehen, dort das von seiner Frau gekochte Mittagessen essen, danach ein Schläfchen halten und erst um halb drei oder drei wieder zu arbeiten beginnen.
Die Öffnungszeiten der Läden waren in meiner Kindheit noch: Von acht bis zwölf und von zwei bis sechs, samstags von acht bis zwölf. Die Verkäuferin im „Konsum“, die Inhaberin des Papierwarengeschäftes, die Verkäuferin in der Bäckerei, die Sekretärin beim Rechtsanwalt und der Rechtsanwalt selbst, der Altwarenhändler, der Goldschmied: alle machten zwei Stunden Mittagspause. Auch die berufstätigen Frauen hatten Zeit, nach Hause zu gehen und für die Familie und sich zu kochen.
Als ich in die Schule ging, war bis zum Ende der Unterstufe klar: Es gibt ein warmes Mittagessen. Danach begann meine erste Eßstörung, und ich aß zu Mittag immer nur eine Jause – um Kalorien zu sparen. (Später, während meiner atypischen Anorexia, aß ich natürlich meist fast nichts.) Mittagspause machten zu dieser Zeit nur noch die kleinen Fachgeschäfte, und natürlich hatten fast alle Geschäfte auch am Samstagnachmittag geöffnet. Im Französischunterricht erzählte die Lehrerin, dass es in Frankreich undenkbar sei, um Punkt zwölf Uhr nicht alles liegen und stehen zu lassen, um zu Mittag zu essen. Ich dachte mir, das wird sich mittlerweile auch geändert haben.
Jeder machte nur noch kurz Mittagspause, meist eine halbe oder höchstens eine Stunde statt zwei. „Having lunch“ statt Mittagessen. Ich lernte im Englischunterricht, dass Übersetzungen immer unvollständig, nicht 100%-ig zutreffend seien. „Having lunch“ bedeutet im ganzen englischen Sprachraum: Rund um die Mittagszeit ein, zwei Sandwiches verschlingen. „Mittagessen“ bedeutet traditionell: die Hauptmahlzeit des Tages zu sich nehmen, meist mit Vorspeise, oft mit Nachtisch. Danach ausruhen, eine Zäsur nach dem halben Arbeitstag. Die Abwechslung von Arbeit und Ruhe über den ganzen Tag verteilen. Die heutige kurze Mittagspause mit Imbiss bedeutet: Ich will die Arbeit so schnell wie möglich hinter mich bringen, um halb fünf heimgehen, denn erst dann beginnt das Leben. Frühstück ist ebenfalls weitgehend aus der Mode gekommen, man hat es ja auch morgens eilig. Früher war es undenkbar, ohne Marmeladebrote oder Brennsuppe im Magen aus dem Haus zu gehen.
Auch ich habe „modern“ gelebt – statt Marmeladebrote nur Kaffee, mittags zwei Wurstsemmeln, abends eine große warme Mahlzeit. Ein, zwei Mal zwang ich mich monatelang, morgens zu essen, weil ich das Essen besser über den Tag verteilen wollte, weil ich mir sicher war, dass das gesund wäre, aber das war immer nur eine lästige Pflichtübung. Auch wenn ich mittags genug Zeit hatte, habe ich mir nie warmes Essen gekocht oder besorgt, ich hatte nicht die innere Ruhe dafür. Den ganzen Tag nie wohlig satt, dadurch immer leicht nervös, wenig Essen als Antidepressivum. Dafür abends dann eine frisch gekochte Mahlzeit, keine Fertigprodukte, die Zeit nahm ich mir meist, auch wenn ich allein gewohnt habe.
Mit über 30 hatte ich eine Beziehung, die erst ab halb neun Uhr abends stattfand. So spät zu essen war mir nicht recht, aber die gemeinsame Mahlzeit war wichtiger. Wir aßen viel und waren danach überfressen und damit zu träge, noch ins Kino zu gehen oder Freunde zu treffen.
In den letzten Jahren fällt mir Essen immer schwerer, das Phänomen heißt ARFID und steht im ICD 11.
Zurück zur Kommune. Ich werde sie gründen, und sie wird „Mittagspause“ heißen. Damit wollen wir ausdrücken, dass wir zum jahrhundertealten Brauch des warmen Mittagessens zurückkehren möchten. Zum nahrhaften Frühstück, zur zweistündigen Mittagspause: „Mische Tun und Nichttun, und du verbringst dein Leben in Fröhlichkeit.“ lautet ein russisches Sprichwort. Entschleunigung also, um einen modernen Begriff zu gebrauchen.
Kann ich das überhaupt lernen? Gibt es andere, die das wollen? Habe ich das Durchhaltevermögen, eine Kommune zu gründen? Versuche ich nicht lediglich, eine (Teil)Lösung langjähriger persönlicher Probleme – mich getrieben fühlen, nervös, das ewige „eigentlich sollte ich“ – an andere zu delegieren? Wenn ja, ist das legitim, wenn auch andere davon profitieren? Fragen über Fragen…


Beste Grüße!

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