Literatur

O kostbare Stille, meine Königin

Von: Gottfried Prinz | 27. März 2020, 07:28

Ein meditativer Text, der momentan zu mehr Menschen passt, als ich mir je hätte vorstellen können. Er beschreibt, was passieren kann, wenn man das Abenteuer Stille auf sich nimmt.
Kann mit Hintergrund Musik gelesen werden.

O kostbare Stille, meine Königin

Wenn ich mich hinsetze und mal versuche, still zu werden,
wenn ich die Augen schließe, um mich von außen abzuschirmen,
wenn ich mich zurückziehe vom Lärm, der mich umgibt,
öffnen sich in meinem Inneren unzählige Schleusen,
aus denen tausend Gedanken auf mich einströmen.

Plötzlich wird mir bewusst, was alles nicht erledigt ist,
was schon lange wartet, angegangen zu werden,
was alles passieren könnte, wenn ich nicht bald etwas tue,
und ich sitze hier – und tue nichts.

Plötzlich wird mir bewusst, was mich ewig schon beschäftigt,
welche Wege ich nicht gegangen bin,
wo ich falsch abgebogen bin,
wo ich doch den anderen Weg hätte gehen sollen.
Und was wäre, wenn ich zurückgehen würde,
und den anderen Weg probierte?

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich vieles nur zum Schein tue,
weil ich mich selbst so sehr daran gewöhnt habe,
weil sich andere so sehr daran gewöhnt haben,
weil sie mich so sehen wollen,
dieses Bild von mir, das so schön ist,
das ich aber gar nicht bin.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich leide unter dem Leid,
das ich andern zugefügt habe;
dass mir zugefügtes Leid viel tiefer sitzt,
als mir im Lärm des Alltags lieb ist,
dass mich dieses prägt bis heute.

Plötzlich wird mir bewusst, dass alle nicht genutzten Chancen
in mir bohren, in mir brennen,
dass ich aber erkennen muss:
der Weg, den ich gegangen bin,
ist doch genau der Weg, den einzig zu bewältigen ich vermochte.

Plötzlich wird mir bewusst, dass alles, was jetzt da ist,
auf dem Fluss des Lebens weiterschwimmen wird.
Ich blicke auf alles, was ist, wie auf Blätter,
die im Wasser treiben, die sicher vorüberziehen.
Es kommt ein neuer Gedanke, ein schöner, ein belastender,
ich seh‘ ihn an, wie er langsam auf mich zutreibt,
ich seh‘ ihn an, wie er langsam an mir vorbeizieht,
ich sehe zu, wie er sich langsam von mir wieder entfernt.

Plötzlich wird mir bewusst, dass alles immer da ist:
Mein Schamgefühl über die Abgründe meiner Seele,
meine Freude über die Lebendigkeit meiner Leidenschaften,
meine Liebesfähigkeit, auch wenn sie keiner kennt,
meine Tagträume, die mir selbst zu oft verborgen sind.

Plötzlich wird mir bewusst, dass der Schatz, nach dem ich suche,
in mir selber ist,
dass der Schatz, nach dem ich suche,
ich selber bin.
Zu den Perlen und Juwelen in meinem Inneren
hab nur ich allein den Schlüssel,
und die Stille ist die Tür,
durch die hindurch ich gehen will.

Ich selber bin der Tempel, in dem die Lebensquelle fließt.
Ich selber bin der Tempel, geweiht den höchsten Göttern,
geweiht mir selbst, so wie ich wirklich bin.
Niemand außer mir und wem ich’s erlaube
Ist der Zutritt dort gestattet.
Hier bin ich geboren,
hier werd‘ ich ewig leben.

In Stille sitze ich an meinem Lebensstrom,
so vieles war, so vieles ist, so vieles wird noch sein.
O kostbare Stille, meine Königin,
die mich lehrt, wer und wie ich wirklich bin.
All meine Wege, all meine Gedanken,
all meine Worte, alle nicht genutzten Möglichkeiten,
alles machte mich zu dem, der ich bin.

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