Literatur

Wie klingt der Frühling 2020?

Von: Teresa V. | 3. Mai 2020, 12:58

Wie ein Notenblatt, das zwischen Algenblättern zum Meeresboden gleitet?

- ein Stimmungsbild

Wie klingt der Frühling 2020?

Wie ein Notenblatt, das zwischen Algenblättern zum Meeresboden gleitet?

Frühling 2020 klingt wie Stille. Klingt wie das Gezeter des Mannes, dessen Frau gestürzt ist und in einer Blutlache liegt, vor der Ärztin, die darauf besteht, in ihrer wohlverdienten Privatzeit zu sein. Klingt wie der Angstschrei des Kleinkindes, das gerade von einem anderen Kleinkind berührt wurde und nun glaubt, sterben zu müssen. Klingt wie der Protestschrei des dritten Kleinkindes, dessen Mama es gerade umarmen wollte. Sie könnte ja Corona haben. Frühling 2020 klingt wie die Bienen im Wohnzimmer und die Singvögel am Balkon und das Rascheln der Smaragdeidechsen im trockenen Laub. Es klingt nach staubigen Waldböden und durstigen Bäumen und Bächen, die Niedrigwasser führen. Es klingt nach Kochgeschirrklängen, Bildungsfernsehen und gepflegten Vorgärten. Es klingt nach Existenzängsten bei jenen, die keinen Job mehr haben und nach Erschöpfung bei denen, die in Kurzarbeit geschickt wurden und mehr arbeiten müssen als je zuvor. Frühling 2020 klingt nach dem Lachen und Juchzen der 12jährigen Jungs, die hinter der Kinderzimmertür mit ihren Kameraden Fortnight spielen oder Minecraft oder Terraria. Frühling 2020 klingt wütend aus den Mündern der Supermarktleiter, die 150% arbeiten müssen und verzweifelt aus dem Mund so mancher Mutter, die neben working from home auch noch homeschooling leiten muss, aber auch nach intensiv erlebter Familienzeit. Frühling 2020 klingt nach dem Gefühl des Stolzes nach getanener Arbeit bei jenen, die es endlich geschafft haben, ihre Wohnung auszumisten und sich dank willhaben und Freizeit neu eingerichtet haben und nach „Coronapartysongs“. Es klingt nach dem Stöhnen von erschöpften Mountainbikern und Streit unter Ehepaaren. Es klingt nach Gefühlsschwankungen und dem Versuch sich selbst in der Welt neu zu verorten. Es klingt nach Dankbarkeit für Nachbarschaftsgesten und Klatschen für Menschen, die das Land jetzt erhalten. Es klingt nach Verlust von allem, was bisher war. Es klingt nach dem Protest von Zivildienern, die im März aufhören hätten können und ohne Zustimmung oder Gehaltserhöhung um drei Monate verlängert wurden. Frühling 2020 klingt wie Menschenmassen, die unter Maulsperrengemurmel in Shoppingcenter einfallen und Neid gegenüber Muslimen, die angeblich Ramadan feiern dürfen, obwohl „uns“ das Osterfest gestrichen wurde. Es klingt nach dem Ruf nach der Polizei, weil sich da schon wieder wer nicht an die Regeln hält und es klingt nach lähmender Einsamkeit. Es klingt nach Beatmungsmaschinen und Desinfektionsautomaten und dem Rauschen von Laptops. Es klingt nach Angst vor der verpflichtenden Handyapp und der Pflichtimpfung und dem Verlust der Demokratie und Versammlungsverbot. Es klingt nach Kompromisslösungen, nach nicht entfliehen können, zur Ruhe gezwungen werden und nach der Suche nach dem Wesentlichen im Leben. Frühling 2020 klingt nach Handygepiepse und den Stimmen derer, die man schon lange nicht mehr gehört hat und den ewig gleichen unnötigen Politikern und Experten in den Medien…

Und wonach klingt es nicht? Nach Flugzeugen! Nach Jubelgeschrei im Fußballstadion, nach Priestertalk in der gut besuchten Messe, nach Kinderlachen am Spielplatz und Menschenmassen auf den Picknickwiesen, nach Urlaubsplänen und Schularbeitsangst, nach Hochzeitsglocken und Erstkommunionen und Firmungen, nach dem Geplapper von Friseurinnen und ausländischen Pflegerinnen und dem gebrochenen Deutsch der Erntehelfer. Es klingt nicht nach guter Begleitung Sterbender in Krankenanstalten und Altersheimen. Es klingt nicht nach Sicherheit und Gewohnheit und einem Gefühl, das man behalten möchte. …

… Frühling 2020 klingt wie ein Notenblatt, das zwischen Algenblättern zum Meeresboden gleitet …

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