Literatur
Timon in der Meisterklasse der Angsthasen
Von: Nina Lechner | 29. Mai 2020, 23:00
Kinderbuchtext in progress über die Ängste des Lebens, und wie man ein guter Schüler in dieser "Meisterklasse" wird, bis man lernt, das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen...
Timon schloss die Tür hinter sich, nicht aber ohne seinem Zimmer noch einen Blick zugeworfen zu haben. Das Spielzeug, sein Bett, seine Poster, die Lampen, die Vorhänge, die Bücher, der Fußball, und auch der Schulrucksack waren dieselben wie immer, und doch war von nun an alles anders. Sogar die Weck-Kuh, die Timon seit fast einem Jahr mit einem tiefen Muhen aus dem Schlaf holte, hörte sich anders an hier in der neuen Umgebung, in der Timon sich seit fast einem Monat befand. Es hörte sich anders an als dort, wo der Kuhwecker oder die Weck-Kuh eigentlich hingehörte, in die Jacobstraße. Aber nun war sie da, war Timon da, und insgesamt hatte alles einen anderen Klang, eine andere Farbe… Grau, dachte Timon, Bis jetzt nur grau. Wir hätten nie hier her kommen sollen, in dieses Grau, und alles, was dazu gehörte. Alles, was dazu gehörte, und der eigentliche Grund für den Umzug gewesen war, hieß in Wirklichkeit: Lukas.
„Timon“, rief Mama, „alles fertig…? Wir gehen!“
Mama kam aus der Küche, Timon holte seinen Rucksack, und gemeinsam gingen sie durch das hippe Wohnzimmer mit seinen grau-schwarzen Bildern an den Wänden, durch das man jetzt immer gehen musste, wenn man zur Tür hinaus wollte. In der Jacobstraße hatte es einen Vorraum mit einem alten Korkfußboden und einem kleinen Korbstuhl gegeben, auf dem Mama immer gesessen hatte, um sich die Bänder ihrer Stiefel zu schnüren. Eine kurze Empfindung einer Erinnerung tauchte auf – ein Daumen in Timons Mund, das Kunstfell des Korbstuhls im Rücken und auf den Wangen, das ganz nach Mama roch, oder zumindest nach ihrem Parfum…
„Vergiss nicht dein Brot“, sagte Mama, und Timon schnappte es beim Gehen schnell noch von der Stehbar. Am Abend nach der Schule würde er sich wieder an das Brot erinnern, das unberührt in seiner Plastikfolie dahin schwitzend noch immer im Schulrucksack war, und das jetzt dringend unter das Bett geschoben werden musste, wo seine mit weißem Flaum überzogenen Kumpels bereits auf es warteten. Ein Glück, dass niemand noch mit dem Staubsauger in seinem Zimmer gewesen war.
Der Morgen war trüb, es war überhaupt schon sehr lange trüb.
Mama ließ sich in den Fahrersitz fallen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Timon den Gurt richtig umgelegt hatte. „Na dann...“, murmelte sie, und da war es wieder, dieses seltsame Gefühl. Diese Enge. Der Druck. Das Gefühl, dass Timon vom Gurt einfach weggesperrt wurde. Es zog am Hals, an der Kehle, und nicht nur dort, am ganzen Körper, es zog ihn zu, zog alles fort… Und es pochte dem Hinterkopf entgegen und war von da an eine Faust, die sich dort bedrohlich auf ihn zu bewegte. Eine Faust, die schnüren wollte.
„Mama“, sagte Timon.
„Ja, was ist denn?“
„Mein Nacken tut weh.. und mir ist schlecht.“
„Schon wieder? Ach, Lukas muss sich diesen Kindersitz mal ansehen, ob man da nicht etwas verstellen kann!“ Lukas. Na klar, schon wieder. Was Lukas in den letzten Wochen, seitdem sie nicht mehr in der Jacobstraße waren, alles so tun und machen hätte sollen… Und was er zwar gemacht hatte, aber sicher doch nur Mama zuliebe. Timon wusste es genau.
„Aber weißt du was, Timon“, kam es jetzt von Mama, „wenn ich mir anschaue, wie du immer so dastehst, mit diesen Blick… immer nach unten, und diesen hängenden Schultern… dann wundert mich wirklich überhaupt nichts.“
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