Literatur, Gesellschaft

Betreff: Keramikfliesen

Von: die Motzknolle | 5. April 2020, 09:50

Ich schreibe seit Jahren immer wieder fiktive Mails an den fiktiven Dr. N.. Themen ("Betreff"): Alles Mögliche, das mir aktuell durch den Kopf geht.
Hier geht es um das Thema: „Zu kurz gedacht!“

Betreff: Keramikfliesen


Sehr geehrter Herr Dr. N.,


neulich habe ich in der Zeitung gelesen: Ein Keramikkünstler will das „Memory of Mankind“ schaffen. Auf Keramikfliesen druckt er das, was er für die „Archäologen der Zukunft“ für relevant hält, von Leitartikeln großer Zeitschriften bis hin zu Informationen über die Lagerstätten von Atommüll. Diese werden tief in einem Bergwerk gelagert und sollen sogar „eine Apokalypse überleben“.
Er ist ja nicht der Einzige und Erste mit dieser Idee. Man denke an die Golden Records, die in den 70er Jahren mit Raumsonden ins Weltall geschossen wurden oder an die Rosetta Disk.
Mir scheint all diesen Projekten ein grundlegender Denkfehler zugrunde zu liegen: Natürlich kann man annehmen, dass es außerirdisches Leben gibt. Natürlich kann man annehmen, dass dieses Leben in ein paar Hunderttausend oder Millionen Jahren auf der Erde landen wird, und die Menschheit hat sich bis dahin garantiert schon längst selber ausgerottet.
Nur: Wer sagt, dass dieses Leben auch nur annähernd so wahrnimmt wie wir, also wie ein Mensch sieht? Wer sagt, dass diese Wesen eine Landkarte lesen können? Vielleicht kennen sie die Konzepte Grundriss und Maßstab nicht. Wer sagt, dass sie in einer Form kommunizieren, die mit der menschlichen Sprache kompatibel ist? Texte gehen immer von einem riesigen Vorwissen aus, das wird uns nur bewusst, wenn wir versuchen, einen Text zu lesen, für den unser Vorwissen nicht ausreicht. Um einen Leitartikel der New York Times zu lesen, muss man zumindest grobe geographische Kenntnisse haben, historische ebenfalls. Der Leser muss zumindest wissen, was ein Land, was eine Stadt ist (eine alltagstaugliche Vorstellung davon haben wir, wie man diese Begriffe genau definiert, beschäftigt ein Heer von Wissenschaftern, nicht zuletzt Philosophen), was „gestern, heute, morgen“ für uns bedeutet (und das ist uns selbst ja nur so ungefähr klar). Wer sagt, dass das diese Wesen ähnliche Begriffe von Raum und Zeit haben? Wer sagt, dass es ihnen möglich ist, unsere Schrift zu erlernen, nicht aufgrund mangelnder Intelligenz (wobei, Intelligenz ist ja auch ein Konzept der westlichen Welt, der Neuzeit, gibt es die überhaupt?), sondern wegen völlig unterschiedlicher Wahrnehmung? Oder gar wegen mangelndem Interesse? Und so weiter, und so weiter. Die Annahme, dass das alles funktionieren könnte, ist für mich ebenso naiv wie die Vorstellung, dass sich Leerstand in einer Stadt so verteilt, dass die Methode der Analyse von Straßenzügen fruchtbringend sein könnte. Und diese Bedenken haben dieser Keramiker und alle seine Vorgänger und alle, die sich an diesen Projekten beteiligen, offenbar nicht. Oder haben sie sie, äußern sie aber nicht und hoffen stillschweigend, dass unsere Kultur und eine eventuelle außerirdische sich ähnlich genug sind, dass ihre Arbeit Sinn hat? Es kann doch nicht sein, dass ich die Einzige und Erste bin, der solche Zweifel kommen!


Beste Grüße!

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