Literatur
Diarium 2020
Von: Richard Wall | 3. April 2020, 21:06
Ich habe zu Beginn des Jahres 2020 mit einem Tagebuch begonnen, da ich der Überzeugung war, dass es ein besonderes Jahre werde. Das Tagebuch ist mittlerweile auf 70 Seiten angewachsen & enthält Notizen, Gedichte Beobachtungen Zitate etc.
Richard Wall
Waldviertler Diarium 2020 (aktueller Stand)
Montag, 30. März
Leichter Morgenfrost. Leider kein Niederschlag, wie angekündigt. Werden wir nördlich der Donau wieder ein zu trockenes Jahr bekommen?
Welch ein Kontrast, einerseits diese Frühlingsmilde, das Erwachen der Triebe bei den Vogerln & Säugetieren, das Aufblühen & Austreiben, andererseits weltweit diese Fledermausvirus-Scheiße.
Abends erfahren wir – das Nachrichtenhören haben wir auf ein Minimum eingeschränkt – dass die Regierung eine weitere Maßnahme setzt, um die Ausbreitung des Virus zu entschleunigen. Ab Mittwoch haben Personen, die einen Supermarkt besuchen, einen Mundschutz zu tragen. Ist damit das Vermummungsverbot der vorigen Regierung aufgehoben? – Die neue Verordnung bietet jedenfalls eine gute Voraussetzung für Tageskassenräuber. So ein Typ legt der Dame an einer gut frequentierten Filiale ein Zetterl vor, darauf steht: „Piepen raus sonst kracht’s!“, niemand schreitet ein, der gebotene Sicherheitsabstand ist einzuhalten, zusätzlich ruft der Gauner mit verstellter Stimme durch die Maske „bin Korona positiv!“ etc., etc.
Dienstag, 31. März
Setz mich am Morgen hin & schreibe folgendes Gedicht:
Was ich zu sagen wage
Nous voulons explorer la bonté contrée énorme où tout se tait …
Guillaume Apollinaire
Das stumme Nicken der Märzenbecher
nach dem Morgenfrost,
der Blüten allmähliches Aufrichten
geht über in ein Lächeln.
Etwas zieht in der Brust, sehnt –
Freiheit unbegreiflich.
Milde Stunden,
Zilp-Zalp und das Schnäbelwetzen der Stare.
Frühling für wen?
Kein Ausbruch von Jubel.
Es wird gestorben
unter maskierten Lippen,
grenzenlos,
wie vor hundert Jahren
Hunderttausende um Apollinaire, Egon und Edith.
Suchende, irrende Blicke, hinweg
über das allmähliche Aufrichten der Blüten
nach dem Morgenfrost.
In der Mitte des Tages heftiges Schneetreiben. Weiß geblieben ist’s nur in schattigen Lagen. Auch unter dem Nordgiebel des Hauses liegen ein paar Zentimeter.
Das Mundschutztragen beim Einkauf ist nun doch erst ab kommenden Montag verpflichtend
Mittwoch, 1. April
Das Waldviertel erweist sich wieder einmal als kalte Gegend. – 10° C in Gars am Kamp.
Erfahre auf der Post, dass es ab heute eine Tariferhöhung gibt (leider kein April-Scherz!): 85 Cent Inland, 1 Euro Ausland. Muss mir einige Ergänzungsmarken zu 5 & 10 Cent zulegen.
Knospender Rosentrieb
Blickfang an der Hauswand
im warmen Abendlicht
vor schattigdunkler Waldwand
drei verwelkte, durchgefrorene Blätter
vom Vorjahr, metallisch, noch immer haftend
am glänzenden Grün des Zweiges, aus dem schon
rötliche, winzige Kegelknospen spitzen.
Kein Windhauch, nur Luft & Licht
& das Knospen der Rose, das mir sagt,
dass man nichts sagt, nur schaut,
& aufgeht im Schauen.
*
Ja, scheitere nur beim Einschränken der Bedürfnisse,
deine hungrigen Augen verraten mehr als du glaubst.
Ziele aufgeben? Namen vergessen,
weil sie nicht halten, was sie versprechen?
Verse & Lieder verlernen?
Kein Weitergehen ohne ein Fühlen & Spüren,
ohne ein Sammeln & wieder Verlieren:
Ein Hören & Schauen um zu sehen,
nichts gewusst
aber gesehen zu haben,
mit mehr oder weniger Habe
gewesen zu sein.
Donnerstag, 2. April
Morgenfrost, wolkenloser Himmel. Es dauert bis in den Vormittag hinein, dass die in der Sonne liegenden grauen Flächen ins Grünliche schmelzen.
Verschlungener Mund. Straff die Masten, auf denen Losungen aber keine Lösungen flattern. So ist es doch, das Volk will beides.
Vergewissere dich, woher der Wind weht, & geh vor ihm in die Knie. Er wird dir’s danken mit einer Lohnerhöhung oder Beförderung zum Wetterhahn oder Windsack.
Ein Bauer vom Dorf unten bringt Mist von seiner Rinderzucht aufs Feld. Ich grabe mit dem Krampen die Erde auf rund um den Ahornstock, säubere ihn mit einem Reisigbesen von Erde & Steinchen etc. bis zum Wurzelansatz, & schlage mit der Asthacke rundum auch noch die Rinde ab, ebenfalls bis zum Wurzelansatz, um sicher zu sein, dass keine Steine mehr am Strunk haften. Derart vorbereitet kann ich ihn jederzeit mit der Motorsäge so abschneiden, dass der verbleibende Strunk in etwa das Niveau des umliegenden Graslands aufweist.
Für einen Salat sammle ich wieder einmal Wildkräuter & Vogerlsalat. Unglaublich, wo er überall, die Samen vom Wind verfrachtet, zu finden ist. Sogar in Felsspalten am Brunnenkranz. Und dies trotz 2-wöchigen Nachtfrostes.
Die sogenannte Korona-Krise trifft die in unsäglicher Hybris über alles sich erhoben & erhaben wähnende „Krone der Schöpfung“ mit voller Wucht. Selbstermächtigung, die schon lange wie am Fließband tötet: Tiere im Wasser, auf dem Land, in der Luft; Pflanzen in allen Klimazonen. Verluste, die, wie man zu hören kriegt, doch nur Spinner & Träumer bewegen. Vielfach unbemerkt dieses Sterben & Ausmerzen von Investoren, gierinfizierten Modernisierern & vor Bildschirmen erblindeten, Konzernen dienenden Forschern in weißen Mänteln oder sonstigen Anzügen.
Der „Rinderwahnsinn“, dem Wahnsinn einer Profitgier entsprungen, hätte eine Warnung sein können.
Doch der Wahnsinn geht weiter: Was sehe ich? - Die Erde, krank gemacht, Tiere eingepfercht in Käfige, gestresst, zur Ware gestapelt, herumgekarrt, verschifft als Fracht, Spekulationsobjekte, an der Börse gehandelt in Zeiten steigender Börsenkurse & Gezeiten, u.v.m. - Bis zum nächsten Crash, der kommen wird bevor all die Städte an den Küsten absaufen.
Bei Großhaslau, Bezirk Zwettl, der erste Waldbrand dieser Saison (Bezirksblätter Zwettl, 1./2. April).
Am Abend eine elektronische Flaschenpost von Tochter Eva- Maria. Sie bedankt sich für das Packerl, das wir an Pina geschickt haben. Die von mir gefundenen Fasanfedern – der Hahn war der Hungerattacke eines Habichts zum Opfer gefallen – hatte ich zu einem Materialbild geordnet. Dieses wollte Pina sogleich zerlegen. Eine natürliche Reaktion, die ich nicht bedacht hatte, derart schillernde Federn stellen für ein Kind eine Attraktion dar, wollen gespürt sein, begriffen werden. Ich schrieb zurück, dass ich noch eine Menge loser Federn für Pina bereithalte, die sie dann zu Ostern, wenn sie hier sind, allesamt haben kann.
Freitag, 3. April
Prächtiger Sonnenaufgang, nur noch leichter Bodenfrost. Vom Waldrand blinzeln noch immer Schneereste herüber. Gestern noch mit Reinhard vom Dorf unten gesprochen, auf dem Rückweg aus einem seiner Waldstreifen, wo er sich ein Bild gemacht hatte über den Zustand der Jungtannen. Er ist einer der wenigen, der zu solchen Anlässen zu Fuß unterwegs ist. Im Verlaufe des Gesprächs sagte er mir – er betreibt privat eine kleine Wetterstation – dass er in diesem Winter insgesamt an die 50 cm Schnee gemessen habe, im Winter 2018/19 seien es in Summe über 150 cm gewesen. Schon daraus gehe hervor, wie trocken der Winter gewesen sei. „Ein, zwei Regenjahre bräuchten wir halt wieder einmal!“, so sein Resümee.
„Meine gegenwärtigen Schwierigkeiten sind keine ästhetischen oder poetologischen – diese sind längst arbeitsimmanent geworden –, sondern ergeben sich aus meiner Gegenstandsbezogenheit. ‚Wozu Dichter in technischer Zeit?‘ – um es parodistisch abzukürzen. Dazu einer Zeit, in der das Fortbestehen meinen Gegenstände, der stummen und redenden, immer fraglicher wird. Wenn ich jetzt die zerstörerischen regressiven Wunschträume Gottfried Benns aus den Zwanzigerjahren lese, haben sie eine andere Bedeutung als früher: nämlich daher, dass ich mir nun die Möglichkeit eines wenigstens biologischen Weiterlebens nach der Zerstörung – einer Evolution aus den nie total zu vernichtenden Lebenskeimen – vorstellen muss, um nicht aus dem Zweifel an jeder Beständigkeit zu verstummen.“ – Dies schrieb Michael Hamburger bereits Mitte der achtziger Jahre (Erstveröffentlichung im Wespennest, 1987). Er, der leidenschaftliche Hölderlinübersetzer, hat den Ausspruch Hölderlins, „warum Dichter in dürftiger Zeit“, aktualisiert. Wenn auch „in dürftiger Zeit“ nach wie vor oder schon wieder Gültigkeit hat, mit welche Eigenschaft würde er heute – statt „dürftig“ & „technisch“ – diese unsere Zeit charakterisieren? Mit „digital“, „elektronisch“?
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