Literatur

Josef

Von: Birgit Krenn | 14. Mai 2020, 11:00

Ein kurzer Text über Nähe und Freundschaft
(wenn liebevolle Nähe nicht erlebt wurde).

Geduckt hinter einem Strauch hält Josef seine Hand gegen die Seite gepresst. Er tropfte, wie ein undichter Wasserschlauch – klebrig rot. Stimmen kamen näher und verloren sich wieder, aber niemand rief seinen Namen. Es fiel nicht auf, dass er fehlte. Er fehlte nie jemandem. Erleichtert schloss er die Augen und ließ sich in die klebrig feuchte Wiese sinken. Seine Arme hielt er dicht an seinen Körper gedrückt. Er mochte es, wenn er sich spüren konnte. Er mochte die Wärme seiner Haut und er mochte die breiten, festen Hände von Klaus auf seinem Rücken, seiner Brust, seinem Oberarm. Manchmal waren sie auch auf seinem Kopf, aber das mochte er nicht so gerne. – Nur die Worte taten ihm weh. Die schnitten ins Herz und brannten noch lange, nachdem das Stoßen und Schubsen zu Ende war. Die Beschimpfungen und Demütigungen waren schlimmer als der Schwindel, den er spürte, wenn Klaus seine Arme um seinen Hals schlang und ihm die Luft nahm, aber nicht so schlimm wie die Worte seiner Mutter.
Klaus sagte nicht viel, er schlug ihn lieber. Vorzugsweise vor der Schule oder im Pausenhof. Klaus sagte manchmal „Idiot“ zu ihm. Für Josef war das wie eine Neckerei unter Freunden. So lange Klaus das Sagen hatte, würde ihm nichts geschehen. Das spürte Josef ganz deutlich. Klaus mochte ihn. Klaus beschützte ihn vor jenen, die stärker waren als Klaus, härter waren als Klaus, älter waren als Klaus, die mit den Fäusten zuschlugen und Messer trugen – zumindest hat er es versucht. Aus seinem Jahrgang hat ihn nie wer angerührt. Nur Klaus schupfte und stieß ihn, brandmarkte ihn mit seiner Hand, hat ihn zu seinem Besitz gemacht. Heute war Klaus unaufmerksam gewesen. Hat nicht genug gesehen mit seinem geschwollenen rechten Auge. Er hatte seine eigenen Probleme.

Als es in den Büschen raschelte, musste Josef sich nicht nach ihm umdrehen. Klaus legte sich neben ihn. Vergrub sein Gesicht zwischen Josefs zarter Brust und seinen dünnen Armen. Weinte den Staub von Josefs Hemd. Bittet ihn nicht um Verzeihung – das hat er nie gelernt.
Klaus stößt seine Fäuste in die Erde neben ihm. „Idiot!“ zischt er jämmerlich. Josef sagt nichts. Hat schon vor Jahren zu reden aufgehört. Riecht Klaus’ Apfelshampoo und sieht den Vögeln am Himmel zu. Aus der Ferne dringen Stimmen zu ihnen herüber.

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