Literatur

Weltenwertewende Teil11

Von: Dr. Ingeborg Wressnig | 28. Mai 2020, 14:08

"Die Weltenwertewende." Ein Corona Tagebuch.

"Vom Lachen zum Weinen und wieder zurück."

"Wenn die Sucht nach dem „Paradies“ krank macht, kann das Bessere schnell zum Feind des Guten werden".

21. Mai
Singend verlasse ich mein Bett am Morgen. Ich schalte mein I-Phone ein.
Das Frühstück schmeckt. Ich reinige die Terrassentische und Sessel, hole Tischsets, Servietten und das dazu passende Geschirr. Bunte Pölster, bunte Decken, falls es kalt wird. Die passenden Gläser für den Champagner. Die Blumen auf der Terrasse helfen mir den Geburtstagsraum in ein kleines Paradies zu verwandeln.
Mein Mann bereitet Fischbrötchen zu. Fisch bekommt mein Bruder im Heim seltener als Fleisch. Er kühlt den Champagner und holt die Torte aus der Garage. Das Geburtstagsgeschenk steht schon am Tisch. Alles fertig, die Hausfrau ist sehr zufrieden und eilt noch die Himmelsleiter, wegen Christi Himmelfahrt, man weiß ja nie, bei Covid-19, den Reinerkogel hinauf.

Punkt 13:30 Uhr geht es dann direkt ins „Annaheim“. Da sitzt er schon, der Rudi, mit Maske um den Hals auf der Bank und wartet auf mich. Es klappt. Wir winken uns zu, ich wende mein Auto und schon sitzen wir maskiert im Auto und brausen Richtung Hochsteingasse.
Männer, bitte nicht küssen, war mein erster sorgenvoller Satz, auch nicht umarmen, bitte Abstand halten.

Mein Bruder war braungebrannt, als ob er einen langen Sommerurlaub am Meer und nicht sechs Wochen eingesperrt in seinem Zimmer mit kleiner Terrasse hätte verbringen müssen. Seine Haare hatten auch genug Zeit gehabt, um zu wachsen. Morgen, erzählte er, geht er zum Friseur, gleich um die Ecke.
Die Brüder plauderten über alte Zeiten. Der Koch servierte auf vier verschiedenen Tellern die Brötchen. Zuerst Hände desinfizieren, dann holte ich die Torte aus dem Eiskasten. Der Champagnerkorken flog Richtung Himmel. Das Geburtstags-Ständchen durfte nicht fehlen, das Leben wurde geehrt.
Das T-Shirt passte farblich ganz zufällig zu seiner Strickjacke. Wir lachten, wir strahlten, wir erzählten uns Geschichten und freuten uns des Lebens. Nach zwei Stunden musste ich ihn wieder ins Heim zurückbringen.

Auf bald, Rudi, wir sehen uns wieder.

Am Abend lese ich im Teletext: Khamenei provoziert Netanjahu mit der „Endlösung“ unter dem Motto: „Palästina wird frei sein“. Morgen ist der Tag, der an die Besetzung Ost-Jerusalems durch Israel während des 6-Tage-Krieges 1967 erinnert.

Wo Schatten ist, muss auch Licht sein

Die Bewohner im Vinzidorf freuten sich über die Geburtstagstorte, die für uns viel zu groß war.
Ein SMS von meinem älteren Bruder: Bin gut in Wien angekommen. Es war ein schöner Tag, danke und liebe Grüße aus Wien.


22. Mai
Wir leben in einer Diktatur der Schreihälse, das darf uns, als Verantwortliche, nicht stören. Wir müssen den Weg der Vernunft weitergehen. Die WHO muss wieder ärztlich und nicht politisch geführt werden.
Das Individuum muss dem großen Ganzen weichen.
Bei den alten Menschen und bei den Schutzausrüstungen haben wir versagt. (Montgomery)
Anna aus der Slowakei ist ein Beweis für unser Versagen. „Ich verbringe die gesamte Woche in einem Haus und pflege 24 Stunden am Tag ein altes Ehepaar. Jetzt sitze ich fest. Außer dem Ehepaar kenne ich in der Stadt niemanden“. Von ihrer Heimat, im Osten der Slowakei, ihren Töchtern, ist sie weit entfernt. Die Grenzen sind für Anna geschlossen. Sie ist nicht wütend, nur traurig. Wo nimmt sie ihre Kraft her? Ihr Mann arbeitet in Deutschland.

Wo Schatten ist, muss auch Licht sein

… und doch scheint alles für Anna noch besser zu sein, als zu Hause in der Slowakei zu bleiben.

Die Medien schwören nicht nur auf unsere kleine, hochentwickelte Volkswirtschaft – Österreich als Nährboden für den Aufschwung nach der Krise – sondern auch auf die Menschen, die in Österreich leben. Sie werden mit ihren hochqualifizierten Gütern, der Forschung, Digitalisierung, Klimaschutz, Regionalisierung, die Entwicklung vorantreiben.


23. Mai
RYANAIR bleibt hart: LAUDA-Aus in Wien.
AUA-Gespräche laufen auf Hochtouren.

Wo Schatten ist, muss auch Licht sein

Abkommen mit Sky: Der ORF zeigt 15 Spiele der Fußball-Bundesliga.
Apropos Fußball.
Berührungen sind ein soziales Bindemittel. (Martin Grunwald)

Wir Säugetiere brauchen das Miteinander-Wohlfühlen. Wir brauchen ein offenes Ohr und noch mehr offene Arme, vor allem für Kinder und Jugendliche. Ohne Berührung, fehlt uns ein zentraler Kommunikationskanal. Menschen, die alleine leben, an Angst und Zwangserkrankungen leiden und von 100% Kontakt auf 0% Kontakt verdonnert werden, für sie kann das eine Katastrophe bedeuten.
Berührungsreize sind für die Stressregulation im Alltag wichtig. Für Kinder ist Körperkontakt absolut essentiell. Auch für den Jugendlichen auf dem Weg zur Partnersuche und Sexualität. Ältere Menschen haben mehr Erfahrung mit der Realisierung von Verzicht. Wir Säugetiere brauchen auch Selbstberührung. Schon als Fötus berühren wir unser Gesicht. Je trauriger die Mutter, umso mehr Selbstberührung macht das Baby im Bauch.

Wo Schatten ist, muss auch Licht sein

Fördern wir unsere Selbstberührung und konzentrieren wir uns auf jede Gelegenheit, die Hände zu waschen, da freut sich auch der Gesundheitsminister.

Jetzt geht es dem Journalismus an den Kragen. Der Journalismus steht in der Kritik der Wissenschaft. Der Wille zur Selbstreflexion und die Entscheidung, neues Verhalten zu üben, fehlt nicht nur den Journalisten/innen, sondern auch mir im Moment.

Inge, merkst du nicht, dass du von Tag zu Tag träger und lustloser geworden bist?

Ich zwinge mich, das Haus zu verlassen. Mein Spaziergang zum Buddhistischen Zentrum weckt in mir Erinnerungen an meine Ausbildung als Psychotherapeutin. Damals faszinierte mich die Vorstellung, dass gemäß der Lehre Buddhas, das „Selbst“ keine konstante Einheit, sondern ein von beständigem Werden, Wandeln und Vergehen gekennzeichneter Vorgang ist. Nach Buddhas Lehre besteht die Persönlichkeit mit all ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Welt aus den fünf Gruppen: Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein.

Das gefällt mir noch immer.

„Liebe Inge, angenommen das Wunder passierte, dein Problem der Lustlosigkeit wäre gelöst, was wäre stattdessen da?“
Eine lebenslustige Inge.
„Wer oder was würde dies woran merken?“
Ich könnte es an mir selbst merken, indem ich anstatt zu jammern meinen Willen einschalte und die Entscheidung treffe, mir einen Stupa-Besuch zu gönnen.
Gesagt, getan. Das Gold ist hell und warm zugleich. Ich setze mich auf die Bank und lasse die vielen farbenprächtigen Bilder aus dem Jemen, Bhutan, Nepal an mir vorbeiziehen. Friede im Herzen, wie finde ich ihn? Verweilen, nicht eilen, die Fülle erkennen, danke sagen. Wie kann ein Weltenwertewandel gelingen? Die Welt als Ganzes ist zu komplex.
Du, liebe Inge, könntest aber die Welt anlachen, vielleicht lacht sie zurück.

Wo Schatten ist, muss auch Licht sein

Ich freue mich über die Freundlichkeit der vielen jungen Leute, denen ich am Weg nach Hause begegne.


24. Mai
Das Land Steiermark trauert um Bischof Weber. Er hat, so meint Wilhelm Krautwaschl, für alle einen Händedruck gehabt, allen in die Augen geschaut und ich bin sicher, dass er auch sehr geduldig Fragen beantwortet hat.
Denk- und Wertebegründungen lenken unsere Gefühle, unsere Verhaltensmuster. Schon die alten Griechen wussten, dass nicht die Dinge Menschen verwirren, sondern die Ansichten, die diese von den Dingen haben. Sonst kann sich die Wortwahl: „Sein Wille geschehe“ nicht so schnell in „Mein absoluter Wille geschehe“ verwandeln.

Ich persönlich balancierte während der ersten Wochen in der Krise zwischen Kampf und Flucht, mit der Angst im Nacken, nur nicht abzustürzen. Die Begegnung mit der Natur wirkte Wunder. Sie half mir immer wieder, meinen inneren Motor einzubremsen, wenn ich mein Navi hörte: „Bitte wenden“.

Dann kam die Zeit der Vorfreude.
Dann kam die Öffnung. Die existentielle Angst verwandelte sich in die Angst vor Verantwortung. Nicht die Beine bewegen uns, sondern das Denken. „Schritt für Schritt zurück in die Freiheit“ war kaum sichtbar, hörbar, fühlbar. Erst die bunten Rosenbüsche, die in allen Gärten wie selbstverständlich immer üppiger wurden und in allen Farben zu blühen begannen, läuteten für mich den Übergang zum „Leben mit dem Virus“ ein.

Wo Schatten ist, muss auch Licht sein

Es gibt kein Leben ohne Tod.

Verwöhnen lassen tut gut.

Übersicht:
Literatur

Übersicht:
Ö1 Kulturforum