Literatur

Fraglos

Von: Fraglos - eine Tiergeschichte | 30. März 2020, 16:34

Es geschah an keinem besonderen Tag, irgendwo in den Weiten Irlands, in der Nähe des Meeres. Der alte Esel graste friedlich, doch besonnen. Auf Eselart. Er wusste nicht wo er hinsollte. Das grasen half. Es war etwas Vertrautes, und Esel mögen Vertrautes. Es ist wie eine kleine Meditation über das Leben. Sacht abzupfen, zermahlen, hinunterschlucken. Immer im selben Rhythmus. Er hatte nun kein zu Hause mehr. Alt war er geworden und nicht mehr belastbar, doch er war ein Nutztier, das belastbar sein muss. Ab und an hob er den Kopf und ließ den Blick übers Meer wandern, doch das war nicht vertraut. Das verunsicherte ihn, denn von seiner Weide aus hatte er das Meer nicht sehen können. Nur das Grasen, das war wie zu Hause. Es war Leben um ihn gewesen, doch jetzt war er alleine. Es waren ihm Schafe begegnet, doch diese interessierten sich nicht für ihn. Sie blieben für sich. Wohl hatten sie ihn beäugt. Wahrscheinlich hatten sie sich gefragt was der auf ihrer Weide verloren hatte, doch dann wandten sie sich auch schon wieder ab, fressend, kauend, sich in die Herde fügend, und er ging weiter, suchte sich einen Platz für sich alleine, als ihn ein Geräusch aufsehen ließ. Es war nicht ungewohnt, doch hier hatte er es nicht vermutet.

Ein kleiner, schwarz-weißer Border Collie war aufgetaucht. Ungestüm sprang er über die Wiese, und als er ein einzelnes Schaf entdeckte, das unweit des Esels stand, hielt er es offenbar für seine Pflicht, dieses vereinzelte Schaf zu seiner Herde zurück zu treiben. Immer und immer wieder lief er neben dem Schaf auf und ab, das sich tatsächlich in Bewegung setzte, aufgewühlt durch das rastlose Herumgehüpfe und -gelaufe. Doch es lief in die falsche Richtung. Sofort stellte sich der Collie dem Schaf in den Weg, um es umzudirigieren. Wieder ein paar Schritte des Schafes, immer noch in die falsche Richtung. Das konnte er nicht hinnehmen. So schnappte er sich das vordere Bein, um es noch nachdrücklicher führen zu können. Endlich gelang es und das Schaf trottete zu den anderen, wo es hingehörte. Dann wandte der Hund sich dem Esel zu, nachdem er ihm sein Können auf so eindrucksvolle Weise gezeigt hatte. Doch der Esel blieb gleichmütig. Zuerst war er noch gelaufen, doch jetzt verlangsamte der Hund seine Schritte. Vorsichtig, ja behutsam fast, näherte er sich dem grauen Esel, der ihn still beobachtete, die Ohren gerade aufgerichtet, aufmerksam und interessiert. Dann war er so nahe, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. Eine Eselnase. Eine Hundenase. Ausgiebig beschnupperten sie einander. Der Hund war auch schon alt, so wie der Esel. Doch das hatte auf seine Lebensfreude keinen Einfluss. Der Esel zupfte ein paar Grashalme ab, das Vertraute mit dem Unvertrauten in Einklang bringend. Die Ruhe mit der Unruhe. Dann sah er den Hund wieder an. Ob er auch Fliegen verscheuchen wollte, weil er so mit dem Schweif wedelte? Langsam trottete der Esel weiter, nur ein paar kleine, tänzelnde Schritte. Der Hund blieb um ihn. Und in der Abenddämmerung, als sich die Sonne blutrot am Himmel niederließ, konnte man sehen – so man gerade in der Gegend und aufmerksam war – wie ein Hund und ein Esel gemeinsam voranschritten. Der Esel bedächtig. Auf Eselart. Der Hund springend und schwanzwedelnd. Auf Hundeart. So führte der Collie seinen neuen Freund in sein zu Hause, in dem der alte Esel Aufnahme fand.

Es tut nichts zur Sache ob Du ein Esel bist oder ein Hund. Auch nicht ob Du Dich nach Eselart benimmst, weil Du ein Esel bist oder nach Hundeart, weil Du ein Hund bist. Beides ist nebeneinander möglich und bereichert unser Leben. Keiner von beiden verlangte, dass sich der andere ändern sollte, denn es wäre nicht passend gewesen. Der eine bereicherte den anderen, auf je seine Art, und nachts – und das hättest Du auch nicht sehen können, wenn Du zufällig in der Gegend gewesen wärst – da schlich sich der Hund aus dem Haus und legte sich neben seinen neuen Freund in den Stall. Und da waren Esel- und Hundeart gleich.

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