Literatur, Gesellschaft

Als ich mein inneres Kind kennen lernte

Von: Lisa Leeb | 3. April 2020, 20:52

Eine Kurzgeschichte zur Arbeit mit dem inneren Kind, und wie das in der Zeit der äußeren Beschränkungen, innere Freiräume öffnen kann.

Mit Mitte 50zig kam ich mir als geschiedene Frau mit 2 erwachsenen Kindern, die schon geraume Zeit ausgezogen waren, ziemlich isoliert vor. Daher hatte ich mir eine tägliche Routine zugelegt: Wie so oft in diesen Covid-19-Tagen setzte ich mich für meine Meditation auf meinen Wohnzimmerboden, um mich zu meinem inneren Rückzugsort zu begeben.
Mein Hausbaum stand aufrecht und stolz auf seinem angestammten Hügel und seine frischen Blätter bewegten sich sanft im leichten Windhauch. Dieser Baum war mein Ansprechpartner, meine Quelle der Ruhe und Freude in dieser so schwierigen Zeit.
Heute bekam ich auf einmal Lust auf ihn hinaufzuklettern. Vielleicht hatte er etwas für mich in seinen Ästen versteckt?
Neugierig stieg ich Ast für Ast höher, doch ich konnte nirgendwo etwas entdecken. Ich wollte auf jeden Fall bis zur Spitze hinauf, um von dort den Ausblick über mein Reich zu genießen. Kurz vor der Baumspitze tat sich auf einmal ein hölzener Rundweg auf, der auf eine Plattform führte. Eingebettet zwischen den Ästen, war er von unten nicht zu sehen gewesen. Ich ging also in großer Erwartung auf meinem Höhenrundweg weiter, als ich plötzlich über eine Schachtel stolperte, die zu meinen Füßen lag. Sie war als Geschenk verpackt, mit einer großen rosa Schleife und vielen kleinen Bändchen drumherum.
Ich kniete mich nieder und dachte bei mir: „Nun hat der Baum doch noch etwas für mich bereitgehalten“, als ich begann behände das Päckchen zu öffnen, „Was wird es wohl sein?“ Während ich auspackte, überlegte ich mir, was ich mir selbst momentan am Meisten wünschen würde. Es tauchten viele Wünsche auf, doch alles was mir in den Sinn kam erschien mir nicht das Richtige, denn es musste doch wohl überlegt sein.
Während dieses Gedankenwirrwarrs gelang es mir wenigstens die Bänder des Päckchens zu lösen und das Geschenkpapier zu entfernen. Dann öffnete ich gespannt den Deckel der Schachtel und fand im Schachtelinneren… - eine Puppe. „Hm, was bitteschön soll ich jetzt mit einer Puppe anfangen? Ein guter Rat, ein weiser Spruch, so etwas wäre nützlich gewesen“, schoss es mir durch den Kopf.
Ich bemerkte, dass die Puppe mir in gewisser Weise ähnlich sah. Ungefähr so hatte ich als kleines Mädchen ausgesehen: Braune geflochtene Zöpfe, blaue große Augen und ein rundliches Gesicht. Damals war ich ein richtiger Wirbelwind gewesen.
Mit der Puppe in der Hand, war ich, ohne es zu merken, den Baum wieder hinuntergeklettert. Ich versuchte umständlich eine Tragemöglichkeit für die Puppe zu finden, nichts schien optimal zu sein. Plötzlich begann sich mein Püppchen zu bewegen und ihren eigenen Willen zu entwickeln. Aus der starren Spielzeugpuppe war ein lebendiges kleines Wesen geworden.
In der Zwischenzeit waren Blumenelfen herbeigekommen, um meine Puppe zu betrachten. Sie wohnten in großer Zahl an meinem Rückzugsort und gehörten hier einfach dazu. Sie kletterten mit ihren luftig leichten Körperchen an mir hoch und quasselten aufgeregt durcheinander. Jede Elfe wollte mein inneres Kind angreifen und mit ihr spielen. Das schien meiner Kleinen zu gefallen.
Auf einmal hatten die Blumenelfen sie bei der Hand genommen und sich mit ihr zu meinen Füßen einen Platz auf dem frischen, grasigen Boden gesucht. Sie spielten Fangen zwischen meinen Beinen und wuselten und tollten um mich herum.
Ich fühlte mich von meiner Last befreit und sah dem bunten Treiben mit Freunde zu.
Nach einer Weile bat mich mein inneres Kind, ihr nun mein Reich zu zeigen. So marschierten wir los. Vorbei an meiner Quelle, wo ich einen Schluck aus meinem Edelsteinbecher nahm, der immer dort stand, wenn ich ihn brauchte. Kurz kam mir der Gedanke, dass ich doch meiner lebendigen Puppe zuerst davon hätte geben sollen. Doch der Augenblick war vorbei und so schöpfte ich den Becher noch einmal voll und ließ ihn reihum gehen. Sie nippte davon und nach und nach trank die restliche Schar der Blumenelfen das herrlich Quellwasser aus. Nun waren wir erfrischt und weiter ging es.
Mein kleines Ich lief dorthin, dann wieder dahin, drehte jeden Stein um, um zu sehen, was sich darunter verbarg, lief ein Stück des Weges voraus, wartete auf uns oder kam wieder zurück gelaufen, um Fragen zu stellen. Quirrlig und lebendig erkundete sie mit uns gemeinsam die Gegend. Kurz hielt sie inne und betrachtete den schönen klaren Kristallsee mit seinem sanft abfallenden Ufer. Er war das Zentrum meines Rückzugsortes. Wir betrachteten das sanfte Schaukeln der Wasseroberfläche, was die muntere Gesellschaft etwas beruhigte und so spazierten wir gemächlich weiter, bis wir zum hinteren Teil meines Reiches kamen. Dorthin, wo mein Pumapärchen wohnte und sich ein Wall nach hinten auftürmte.
„Dieser Bereich ist meine äußere Grenze, und die beiden Pumas schützen ihn vor Übergriffen“, erklärte ich meinem inneren Kind. „Was ist denn dahinter?“, war die zu erwartende Frage. „Dort wohnen meine schmerzhaften Erfahrungen und Erinnerungen“, gab ich zur Antwort.
Doch mein inneres Kind ließ natürlich nicht locker, sie wollte unbedingt über diesen Wall gehen, um zu sehen, was sich dahinter wirklich verbarg. In mir sträubte sich alles. Ich hatte Angst davor erneut Schmerz erleben zu müssen und zu wenig Vertrauen in mich und meine Stärken, um mir vorstellen zu können, dass ich diesen Wall unbeschadet überqueren könnte.
Als mir das durch den Kopf schwirrte, tat sich plötzlich ein breiter Weg vor uns auf, der sich durch die Hänge und Steine des Walls wand. Er schlängelte sich an Hindernissen vorbei und zog uns regelrecht zu sich hin, um seiner Richtung zu folgen. Meine Angst steigerte sich ins unermessliche: Was werde ich zu sehen bekommen? Auf wen werde ich dort treffen?
Mein inneres Kind zupfte an meinem Kleid, was mich aus meinen Gedanken riss, und deutete mir, dass ich mich zu ihr hinunter beugen sollte. Die Kleine nahm mein Gesicht zwischen ihre Händchen und blickte mir in die Augen, dann sprach sie leise: „Ich habe auch manche schöne Erinnerung an diese Zeit, lass sie mir. Ich möchte nicht darauf verzichten, nur weil es da auch den Schmerz und die Angst gibt. Wenn du diesen Teil abtrennst, werde ich aufhören zu existieren und du wirst aufhören lebendig und neugierig zu bleiben.“
Ich wusste, dass sie recht hatte. Doch wie sollte ich das schaffen?
Wir waren auf der Höhe des Weges angekommen, vor mir breitete sich ein weites Tal aus. Es war genauso wunderbar anzuschauen, wie mein Rückzugsort. Ich war erstaunt. Ich hatte immer geglaubt, dass es hier dunkel, unwegsam und kahl sein müsse.
Das Pumapärchen war uns auf unserem Weg gefolgt. Sie schritten an uns vorbei und sahen das riesige Gebiet, dass sich vor ihnen aufgetan hatte. Hier konnten sie uneingeschränkt herumstreifen. Ich sah ihnen ihre Freude darüber förmlich an, denn bisher waren sie als die Schutztiere meines Walls nicht sehr weit herumgekommen. Jetzt konnten sie sich plötzlich frei bewegen und sie konnten überall dort zur Stelle sein, wo es für mich notwendig war. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich mich auf sie verlassen konnte. Sie waren schnell und würden bereit sein, wenn ich sie brauchte.
Mein inneres Kind strahlte und meinte: „Du bist auf deinen Angstberg gestiegen, um deiner Freiheit näher zu sein. Nun kannst du eine Rundumsicht genießen und deinen Blickwinkel erweitern. Du gibst dir dadurch neue Möglichkeiten und Perspektiven.“
Wie klug sie doch war. So betrachtet schien es mir auf einmal klar und einleuchtend. Viele schöne Bilder aus meiner Kindheit schoben sich zurück in mein Bewusstsein: Schwammerlsuchen mit meinem Opa, Brotbacken mit der Oma, mit anderen Kindern aus dem Dorf auf der Straße „Tempelhupfen“, Milch vom Bauern holen, das Arbeiten an der Zaunmauer mit meinem Vater, der herrliche Duft von getrocknetem Heu, Gummihüpfen mit meinen Mitschülern, Radfahren in der Jugendgang, … und die erste Liebe aus der Nachbarklasse.
Große Dankbarkeit für diese Erlebnisse und für alle Menschen, mit denen ich das erleben durfte, durchströmte mich: „Ich nehme das Schöne und die Erfahrungen mit und lasse das andere dort, wo es hingehört, in die Vergangenheit“, sagte ich zu mir.
Mein inneres Kind hatte sich leise und zufrieden einen Platz zum Schlafen in meinem Herzen gesucht. Es war ein ereignisreicher und aufregender Tag gewesen.
Mein inneres Kind ruhte sich nun aus, es war heimgekommen.

Übersicht:
Literatur, Gesellschaft

Übersicht:
Ö1 Kulturforum