Literatur

Die Mauer

Von: Michaela Schwamberger | 15. April 2020, 09:29

Kurztext

Schweigend saßen sie sich beim Abendessen gegenüber. Ihre Blicke waren starr auf die Teller gerichtet. Die Gabeln gaben ihre eigene Melodie von sich, nicht immer im Gleichklang mit den Messern und schon gar nicht im Zusammenspiel mit dem Besteckpaar des Gegenübers.

Ein kratzendes Hüsteln unterbrach die Stille, aber nur für Augenblicke. Nach einem kurzen Räuspern war wie zuvor nur das Musikspiel des Bestecks zu hören.

Die Stille zwischen ihnen manifestierte sich zu einer unsichtbaren Mauer. Niemand sah sie, niemand konnte sie greifen, aber sie war da. Hier, mitten am Tisch, war sie aufgestellt worden. Heimlich und leise, wie es sich für eine Mauer der Stille gehört, hatte sie sich in ihr Leben geschlichen. Anfangs waren es nur ein paar Steine, die lose am Tisch lagen, leicht wegzuräumen, wuchs sie über die Zeit zu einer unüberwindbaren Schranke. Eine Barriere, die sie selbst in der Hand hatten niederzureißen und zu zerstören. Ein Wort, ein einziges kleines Wort und sei es auch noch so unbedeutend, noch so lächerlich nichtssagend, würde ausreichen. Ein Wort alleine gegen die scheinbar unüberwindbare Mauer. Doch sie ließen sie stehen. Sie ließen es zu, dass sich die Mauer im ganzen Haus verteilte. Waren es anfangs die hastigen, lieblos und schnell hinuntergewürgten Mittagessen, die die Mauer wachsen ließen, übertrug sich die Stille auch auf das Frühstück. Danach wurde das Abendessen von der Mauer eingenommen. Stille, Ruhe, Sprachlosigkeit – die Steine zum Aufbau wurden jeden Tag, bei jeder Mahlzeit mehr. Die Mauer bahnte sich ihren Weg über das Wohnzimmer, kam bis ins Schlafzimmer. Sie war allgegenwärtig. Sie hatte sie umzingelt. Doch sie schrie in ihrer vollen Wucht der Stille danach, niedergerissen, abgebaut und beseitigt zu werden. Aber in dem Sturm der Lautlosigkeit ging ihr Ruf nach Erlösung unter. Nur das Klappern des Bestecks spielte noch Musik.

Übersicht:
Literatur

Übersicht:
Ö1 Kulturforum