Besatzungsmächte , Versorgung

Keine Stalinorgel dröhnt mehr am 8. Mai

Von: Gerhart Langthaler, Jahrgang 1933 | 31. März 2025, 08:49

Mit den Worten "Wojna kaputt" wurde uns klar, dass der Krieg zu Ende war. Meine Mutter musste für russische Soldaten am Klavier spielen, sie sagte, sie hätte um ihr Leben gespielt. Ich bekam einen Sack Zucker geschenkt.

Verfasst am 8. Mai 2016
71 Jahre Frieden und sein Beginn (8. Mai 1945)

Der Tag begann ebenso strahlend wie der heutige.
Uns weckte die Stille dieses helllichten Morgens.
Keine Stalinorgeln fuhren aus den geschächteten Erdgruben, um unweit des Ortes loszudröhnen. Wir vernahmen weder Kanonendonner, noch das seltsam vertraute Brummen der amerikanischen Bombengeschwader, die seit Wochen, hoch über uns hinweg, Richtung Wien ihre Kondensstreifen zogen.
Was war geschehen?

Wenig später hörten wir heitere Rotarmisten, die laut verkündeten: "Wojna kaputt". Wir konnten es nicht fassen: Der Krieg sollte aus sein? Wir saßen doch seit Wochen umgeben von der wütenden Roten Armee nahe einem heißumkämpften Frontgebiet. Hier, wo
Frauen jeglichen Alters täglich vergewaltigt, wo Menschen, hauptsächlich jüngere zur Zwangsarbeit verschleppt wurden, wo man haltlos plünderte und zerstörte. Was sollte nunmehr aus uns werden, die wir zusammengepfercht in der Dachkammer einer ehemaligen Industriellenvilla saßen? Bestenfalls auf Abruf geduldet. Wir, zwei Frauen, vier Kleinkinder zwischen einem halben und drei Jahren alt. Ich, ein Zwölfjähriger, zerrissen von gemischten
Gefühlen, froh einem HJ-Lager entronnen zu sein, verwirrt durch all das unverständliche Kriegsgeschehen, männlicher Vertreter dieser schutzbedürftigen Familie, der als Einziger ziemlich unbehelligt das Haus verlassen konnte, auch musste, denn wer sonst wäre zu den Bauern gegangen, um Milch und Brot zu erbetteln?

Es dauert nicht lang, vernehmen wir das Getrappel unzähliger Pferdehufe, das holprige Gepolter überfüllter Panjewagen, alles getragen von den schwermütigen Liedern der Rotarmisten, die in schier endlosen Kolonnen die Hauptstraße durch den aufgewühlten Marktflecken entlang ziehen. Wohin marschiert dieser Heerwurm? Wir sind ratlos, ebenso schutzlos. Was steht uns in dieser neuen Situation bevor? Auskünfte gibt es keine.

Ich darf also die Mansarde verlassen, mich aus dem Haus schleichen, unbemerkt bleiben von den scharfriechenden Soldaten, die ihre Puschka locker über der Schulter tragen. Der Anblick ist überwältigend. So weit ich sehen kann, straßauf, straßab nichts wie vollbepackte
Fahrzeuge geschmückt mit knallroten Fahnen, beladen mit Beute allerlei Hausrats, Truhen, Nähmaschinen, Kisten und Kochgeschirr.
Ein Trupp Reiter sprengt heran, ich mache mich klein, Kosakinnen, die gefährlichste Truppe, flüsterte man von Haus zu Haus.

Erst gegen Abend dieses langen strahlenden Tags, pocht es heftig an unsere Kammertür. Wir verstummen. Ich wage, zu öffnen.
Erleichterung, vor mir steht der bereits bekannte Koch, er hat uns schon wiederholt Suppe gebracht. Ein Tauschgeschäft, er darf sich an den klapprigen Tisch setzen, um dort in Ruhe Briefe an seine Familie im fernen Russland zu schreiben. "Malinki, Malinki", er deutet auf unsere Kleinkinder und dann auf sich. So ist das also.
Auf jeder Seite gibt es bedrohte Kinder.

Nun haben wir den Beginn des Friedens überstanden. Was wird morgen sein? Wir schöpfen Hoffnung. Neuerlich donnern Schläge an die Tür. Ein Kind weint auf, das zweite schreit mit. Mutter, kreidebleich, schleicht zur Tür. Wie stets in all diesen schreckerfüllten Wochen schläft sie völlig bekleidet. Das Klopfen wird dringender, die raue Stimme fordernder. Durch den geöffneten Spalt tritt ein
Stiefel die Tür auf: "Dawei, dawei". Mutter schwant Schreckliches.
Schon packt sie der offenbar Betrunkene und zerrt sie die steilen Stufen hinunter.

Nun sind alle Kinder wach, heulen leise, meine Taufpatin schluchzt vor sich hin, versucht die Kinder zu beruhigen. Was hatte mir Mutter noch zugerufen: "Bitte pass auf deinen kleinen Bruder auf."
Wolf ist zehn Jahre jünger. Er ist über und über mit Krätzen bedeckt und muss ständig behütet werden, dass er sich nicht alle Wunden aufkratzt. Was werden sie Mutter antun?, der Gedanke lässt mich nicht schlafen.

Sie kommt im Morgengrauen. Leise, ganz leise schleicht sie herein in diese dumpfe Kammer. Ja nicht die Kinder wecken, die endlich schlafen. Mutter legt sich auf den Strohsack neben meinem, starrt gegen die schräge Decke. Endlos, wie mir scheint.

Sie schweigt, gibt auch sonst keinen Ton von sich. Wie soll ich das deuten? Endlich, gegen Mittag, beginnt sie zu sprechen. Meine Tante hält ihr die Hand. Stockend bricht es aus ihr hervor: "Es hat sich, Gott sei Dank, bewahrheitet, was stets im Ort gemunkelt wurde, die
sogenannten Hausrussen tun ihren Mitbewohnerinnen kein Leid an. Sie haben mich in die Diele geschleppt, dort steht noch ein Klavier, und der Offizier, wahrscheinlich der höchste, hat mich dort hin komplimentiert, ich möge spielen, einfach spielen. So spielte ich einfach hinein in das Gegröhle der aufgebrachten Soldaten, die
taumelnd den Sieg über die deutsche Wehrmacht feierten. Ich glaube, ich spielte um mein Leben.

Tags darauf bin ich wieder unterwegs, ich, der Erhalter unserer kleinen Familie. Ich laufe auf Schleichwegen, vorbei am Friedhof, entlang das Bachs zu unserer Milchbäurin außerhalb des Orts. Ahnungslos betrete ich das Gehöft, glaube, die alte Schneeweiß zu finden, betrete die Stube und finde einen Haufen Rotarmisten vor,
die rings um den Tisch hocken und Schnaps trinken. Einer packt mich, hebt mich stracks über seine lachenden Kameraden hinweg, und schon sitze ich im Herrgottswinkel. Der rotschädlige Soldat neben mir nötigt mich, den Fusel aus seiner Flasche zu trinken. Ich weigere mich, so gut es geht. Mir graust vor diesen Sauf-
kumpanen, die sich auf meine Kosten belustigen wollen. Aber ehe ich mich versehen kann, betritt einer die Stube, brüllt etwas, und augenblicklich verstummt die ausgelassenen Runde. Ich werde bereitwillig aus der Ecke geholt und mit viel Schwung vor den Retter gestellt. Der lotst mich ins Freie. Dort händigt er mir einen Sack aus, einen um und um dreckigen Jutesack. Er fordert mich auf, hineinzuschauen. Etwas Weißes leuchtet mir entgegen.
Später stellt sich heraus, es ist Kristallzucker, naß und schmutzig.
Der Rotarmist hilft mir, den schweren Sack zu schultern.
Taumelnd unter der Last, eile ich so schnell mich meine Beine tragen in unsere Behausung zurück. Mutter und Tante strahlen: aufgekocht, wird der Zucker sauber genug sein, die Kinder für längere Zeit zu versorgen.

Umgebungskarte "Besatzungsmächte "

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