Literatur
Eine Liebesgeschichte
Von: Birgit Krenn | 15. April 2020, 21:45
Ein zarter Text über das Gesehen-Werden und wie sehr wir einander berühren können, ohne es zu wissen.
17:30 zeigt die Digitalanzeige seines Radioweckers. Herr M. schlurft behäbig in die Küche, stellt seinen Kaffee auf, geht ins Bad. Er weiß nicht, dass er „´s Leben is wi a Dram“ summt, während er duscht. Erst beim Zähneputzen stellt er fest, dass er sich auf diesen Tag freut.
Er trinkt seinen Kaffee und blättert dabei die Zeitung durch, ohne bei einem bestimmten Artikel zu verweilen. Die Welt da draußen interessiert ihn nicht mehr. Er ist ganz zufrieden mit seinem kleinen Leben. Der Arbeit, den freien Abenden, die er mit Freunden beim Kartenspielen verbringt und den Hitchcock-Filmen, die er sich immer wieder auf Video ansieht. Er kennt sie alle auswendig, aber das kann seine Begeisterung nicht schmälern. Im Gegenteil. Er sucht nach Anschlussfehlern oder Ungereimtheiten, bewundert die eine oder andere Einstellung, einen gelungenen Schnitt. Immer wieder fallen ihm Kleinigkeiten auf, die er zuvor nicht bemerkt hat. Beobachten ist zu seinem Hobby geworden.
Er will sich nur ein wenig beschäftigen, bevor er in die Arbeit geht. Seiner Freude nicht zu viel Raum geben, noch nicht.
18:37. Er packt seine Thermosflasche mit Tee, den er mit etwas Rum geschmacklich aufgebessert hat, in seine Arbeitstasche, wo noch ein Rätselheft und der angefangene Krimi von gestern Abend liegen. Das Anziehen seiner Schuhe bereitet ihm Mühe. Er keucht laut, als er sich über seinen schweren Bauch bückt, um die Schuhbänder zu binden. Ein letzter Blick in den Spiegel, bevor er die Wohnung verlässt. Er fährt sich noch einmal durch das erst kürzlich geschnittene Haar und nickt sich zufrieden zu. Er macht sich nichts vor. Er weiß, dass er keine Augenweide ist. Er ist ein dicker, alter Mann, der bestimmt keine Frauenblicke mehr auf sich zieht, aber er hat immer noch dichtes, gewelltes Haar und darauf ist er stolz. Was die Frauenblicke betrifft ... Bei der Erinnerung an längst vergangene Tage lächelt er schelmisch. „´s Leben is wi a Dram“ summend, steigt er in seinen Wagen.
Pünktlich um 19:30 löst er seinen Kollegen vom Tagesdienst ab. Er erledigt die üblichen Formalitäten, bevor er es sich in seinem Stuhl bequem macht, den er für die nächsten 10 Stunden nicht verlassen wird. Die Monitore sind eingeschaltet, der Krimi liegt bereit. Mit leiser Befriedigung fühlt er die prickelnde Unruhe, die sich einstellt, sobald er das Gebäude betritt. Er geht die Liste der noch anwesenden Personalnummern durch. Zahlen ohne Gesichter, die ihm nur sagen, wie viele Personen sich noch in welchen Büros befinden. Er beneidet seinen Kollegen ein wenig, der die Gesichter zu den Zahlen kennt. Er selbst darf keine Rundgänge machen. Es wäre auch zu beschwerlich für ihn, das riesige Gebäude im Drei-Stunden-Takt durchzugehen. 1756. Diese Nummer kann er dennoch zuordnen und leise flüstert er „1756“ anstelle eines Namens. Er würde sie gerne dabei beobachten, wie sie über ihren Akten sitzt. Er stellt sich vor, wie sie mit Kunden am Telefon verhandelt, während sie ihm beiläufig ihren Dienstausweis entgegenhält. Einfach nur ein wenig mehr in ihrer Nähe sein, vielleicht ein, zwei Sätze mit ihr sprechen. Ein wenig mehr, als er sonst die Möglichkeit dazu hat. Vielleicht stehen Fotos auf ihrem Schreibtisch. Von ihrem Mann. Ob sie Kinder hat, weiß er nicht, er hat nur den Ring an ihrem Finger gesehen. Sie ist noch da. 1756 steht noch auf seiner Liste. Manchmal arbeitet sie bis spät in die Nacht und er fragt sich, ob es tatsächlich nur ihre Arbeit ist, die sie hier hält. Solange sie noch da ist, lässt er die Monitore keinen Augenblick aus den Augen. Er will sie nicht versäumen und freut sich, denn hier erlaubt er sich seine Freude auf diesen kurzen Augenblick, in dem er sie sehen kann. Alleine zu wissen, dass sie hier ist, irgendwo in seiner Nähe, verleiht ihm ein Gefühl der Größe, das er trotz zahlreicher Liebschaften, trotz einer mehr oder weniger glücklichen Ehe bis dahin nicht gekannt hat. Er fühlt sich männlich und innerlich stark, nur weil sie da ist.
Manchmal gelingt es ihm, sie mit einer kleinen Bemerkung zum Lächeln zu bringen.
Entzücken. – Es fällt ihm kein besseres Wort ein, denn genau das ist es, was er empfindet, wenn ihr ernster, verschlossener Gesichtsausdruck zurückweicht, um einem Lächeln Platz zu machen, das er ihr schenken durfte. Dieses Bild trägt ihn durch die weniger guten Tage und die jeweils letzte Begegnung mit ihr gleitet mit ihm durch die Nacht, wie ein Traum, der einen nicht mehr los lässt. Plötzlich beginnt sich die prickelnde Unruhe in ihm zu verstärken und noch bevor er sie auf dem Monitor sieht, weiß er bereits, dass sie in den Lift gestiegen ist.
Noch bevor sich die Lifttür im Erdgeschoss öffnet, hofft sie, dass er da ist. Sie weiß nicht, an welchen Tagen er Dienst hat, ob überhaupt ein Rhythmus dahinter steckt und sie denkt auch nicht darüber nach. Sie weiß nur, dass sie sich jeden Abend, bevor sie aus dem Lift steigt, ein wenig darauf freut, ihn zu sehen. Auf sein freundliches Gesicht. Seinen gütigen Blick, der ihr wie ein zartes Streicheln vorkommt. Sie lacht verlegen bei diesem Gedanken. Aber es ist tatsächlich so, als würde er ihren Kummer, ihre Müdigkeit, ihre Wut einfach irgendwie glätten, für sie erträglicher machen, indem er einfach nur da ist. Er wirkt so gelassen, so zufrieden, als würde er nichts auf der Welt lieber tun, als hier zu sitzen und zu sehen, wie die Menschen an ihm vorübergehen. Als hätte er in dieser Einfachheit seine Erfüllung gefunden. Er weiß es nicht und bestimmt ist es auch nicht seine Absicht, aber er gibt ihr jeden Abend ein Stück von sich als kleinen Abschiedsgruß auf ihren Heimweg mit. Man redet natürlich nicht viel miteinander. Was hätte man sich auch zu sagen. Ein Nachtportier und eine Pressesprecherin. „Guten Abend.“ „Auf Wiedersehen.“ „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“ Das Übliche eben. Manchmal ein „Wie geht es Ihnen?“ „Schön, dass Sie da sind.“ So etwas sagt man einfach nicht. „Ich mache mich lächerlich“, denkt sie. Dennoch gibt es Tage, an denen sie sich wünscht, sie könnte sich in seine Arme schmiegen, sich wieder klein und geborgen fühlen, eingehüllt in seinen massigen Körper. Ihr Mann würde sich über sie lustig machen, wenn sie ihm davon erzählte. Er würde es nicht verstehen. Obwohl er immer für sie da ist und ihr mit Rat und Tat zur Seite steht, sehnt sie sich nach der Nähe dieses fremden Mannes. Vielleicht ist es das. Vielleicht geht es nicht darum, ihr einen Rat zu geben, ihr beizustehen. Sie ist keine Anfängerin und auch nicht hilflos. Sie kommt auch alleine gut zurecht. Aber der Gedanke, einfach nichts mehr sagen zu müssen, nichts mehr zu erklären oder zu argumentieren und auch niemand mehr zu sein. Nicht Ehefrau, nicht Pressesprecherin, nicht Kollegin und nicht Vorgesetzte. Einfach nur müde sein, schwach sein, klein sein, ohne dass es von Bedeutung ist. Nur weil es eben für einen Augenblick so ist. Bei ihm könnte sie es, das weiß sie mit Sicherheit. Er würde es verstehen. Nur ein Gedanke. Ein schöner, ein tröstlicher Gedanke.
Als sie aus dem Lift steigt, sieht er ihr bereits entgegen.
„Auf Wiedersehen“, sagt sie.
„Auf Wiedersehen“, sagt er, „Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.“ Sie nickt ihm lächelnd zu. Vor dem Ausgang dreht sie sich noch einmal zu ihm um. „Der neue Haarschnitt steht Ihnen gut“, sagt sie und zögert für einen Augenblick. „Bis morgen dann.“ Fast klingt es wie eine Frage.
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