Literatur

Wilder Vogel

Von: Paul Auer | 24. März 2020, 14:58

Nun also liege ich hier, durchaus bequem, höre den Nachtklang der Frühlingsvögel, sehe den rechteckigen Ausschnitt des mondbeschienenen schwarzblauen Himmels über mir, in den sich die Äste und Zweige meines Baumes fast unmerklich einschieben. Sie sind noch kahl, wie man sagt, aber die Knospen sprießen bereits. In wenigen Tagen, so die Witterung milde bleibt und kein böser Frost einsetzt, wird die Blüte beginnen. Blüte. Ich bin gewiss nicht der Erste, dem die phonetische Nähe dieses Wortes zu ‚bluten‘ auffällt, nahegeht, Nacht für Nacht. Tatsächlich wird, wie stets im Leben, dem Blühen das Bluten folgen, wenn im Spätsommer an meinem Bäumchen die Kirschen hängen werden. Wilde Vogelkirschen.

Der weise Mann am Markt hatte recht, dies ist der richtige Baum für mich, für uns. Ich sehe ihn vor mir auf einer Obstkiste stehen, höre seine schneidende Stimme tiefschürfende Plattitüden in die Zuhörerschaft schmettern, in welche ich mich auf der Suche nach Zutaten für mein Nachtmahl eingefügt habe; ich war neugierig, wessen die Menschentraube so gebannt lauschte, mit welchen Worten der Mann auf der Obstkiste lockte und schlussendlich zumindest mich bis in diese Grube hier brachte, bringen würde. Wir sind mit nichts auf diese Welt gekommen, mit nichts werden wir sie wieder verlassen. Das waren seine ersten Worte. Ich verrate Ihnen sogleich: Es werden auch seine letzten sein.

Plattitüden, ja, wie auch das Folgende: Die Kleider, die wir zwischen Geburt und Tod tragen, die Arbeit, die wir verrichten, die Gedanken, die wir für wichtig halten, die Ziele, die wir zu erreichen suchen, die Enttäuschungen, denen wir uns ausliefern, sie alle sind angesichts der Dauer und Größe des Universums nicht einmal diese Worte wert … Das weiß im Grunde jeder, das zu beweisen oder zu widerlegen bemühen sich Philosophen seit Anbeginn der Zeit. Bloß nützt es nichts. Der Mensch bleibt lebendig und nimmt sein Leben wichtig, doch das Gegenteil würde ihn nolens volens umbringen, es wäre ihm unerträglich, alleine die Vorstellung, dass dieses illusorische Konstrukt einer Identität aus Herkunft, Name, Vorlieben, Zielen, Merkmalen, Eigenheiten, Abneigungen, dass dieses scheinbare Individuum nichts als ein von chemischen Impulsen durchzuckter Zellhaufen sei, ist den meisten Menschen nach wie vor eine unerhörte Kränkung, die ihnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen imstande ist, ja mehr noch, die sie in das sprichwörtliche schwarze Loch stürzt, zuweilen eine buchstäbliche Grube; woraus sie erst recht wieder bloß mit Hilfsmitteln der Lüge, mit Medikamenten, Therapien und neuen Glaubenssätzen befreit werden können. Indes ist jedem, sobald er sich einmal in jenem schwarzen Loch befunden hat, einsichtig, dass es solch Befreiung nicht geben kann, spätestens wenn er sich in die vermeintlich liebevollen, erlösenden Hände fernöstlicher Lehren begeben hat und nach anfänglicher Euphorie und der phantastischen Gewissheit, endlich einen Modus Vivendi mit den Zumutungen der Eitel- und Übelkeit gefunden zu haben, zu der furchtbaren Einsicht gelangt, dass selbst dieses einleuchtend scheinende Glücksversprechen lediglich eine Methode ist, die Zeit totzuschlagen und auf eine wiedererstandene bessere Zeit zu hoffen, ohne sie zu erwarten, insofern der perfideste Selbstbetrug unter allen.

Erwarten sollte der Mensch ohnedies nichts, und dass er dies weiß und dennoch ihm die Erwartung nach all den grauenhaften Jahrtausenden blutigen Fehlverhaltens nicht ausgetrieben worden ist, dass er immer noch, ob als Gattung oder Monade, auf ein Paradies hofft, temporär oder ewig, ja alleine diese kognitive Dissonanz des Menschen, dass er eben erwartet und zugleich weiß, dass sich bislang noch keine einzige Erwartung gerechtfertigt hat, und wenn doch, so lediglich unter der Zuhilfenahme wiederum von neuen tröstenden Erwartungen – ein Knäuel an Widersprüchlichkeiten, zudem nur mittels Ironie handzuhaben. Denn bekanntlich hat jener Mensch in kindischen Zeiten wie diesen verloren, der seine eigenen oder die Bedürfnisse seiner Mitmenschen ernst nimmt (dass der Mensch sich wichtig nimmt, bedeutet nämlich leider keinerlei Ernsthaftigkeit) – denn etwas ernst zu nehmen heißt in erster Linie, sich der möglichen Blöße enttäuschter Erwartungen hinzugeben, was sich nach all den Jahrtausenden grausamer Blutrünstigkeit und peinlicher Pathetik kein halbwegs auf- und abgeklärter Mensch erlauben kann, weswegen nicht nur Gott tot ist, sondern auch alle, die ihn getötet haben, aber eben auch alle, die ihn wiederzubeleben versuchen.

Nun werden Sie sich vermutlich fragen, was das soll, oder auch nicht, denn Vermutungen über die Reaktion, das Verhalten, die Gedanken, die Schlussfolgerungen unserer Mitmenschen anzustellen mag mittlerweile als unbotmäßiger Übergriff in die individuelle Integrität eines Einzelnen gelten, da ja, eben weil wir alle mehr denn je von unserer Bedeutungslosigkeit angesichts der Zeit und des Raums, die uns umgeben, wissen, jeder diese seine Bedeutungslosigkeit zum Maß aller Dinge erhebt, erheben muss, da er ansonsten im Wahnsinn, im Loch, in der Grube sich winden würde, Tag und Nacht, in der Hoffnung oder Erwartung, der noch zu enttäuschenden Erwartung, dass die Mutter kommen möge, um das gekränkte Kind, zu dem die anderen Kinder so garstig sind, zu trösten, ihm zu versichern, dass es natürlich das beste und schönste und richtigste Kind auf dieser Welt sei, bloß die anderen Kinder ihre eigene unerträgliche Bedeutungslosigkeit auf das bedeutungs-volle beste, schönste und richtigste Kind dieser Welt projizieren – wie ja überhaupt jeder heutzutage mit jedem Atemzug nichts anderes macht, als zu projizieren, jede Äußerung, jede Anmerkung, jede Vermutung, jeder Hinweis, eben jeder Atemzug ist eine einzige Projektion.

Abgesehen von Projektionen hat sich für Sie also noch nicht erschlossen, weshalb ich all das sage, hier auf meiner Obstkiste stehend oder doch in meiner Grube liegend. Sie haben gewiss Vermutungen, wer und was ich bin, vor allem aber weshalb ich hier neben mir ein Bäumchen aufgestellt habe, eine Wild- oder Vogel-kirsche, wie der Fachmann unter Ihnen gewiss schon festgestellt hat, ohne hierzu sein Smartphone zu bemühen. Auch Sie, die Sie mir, der ich in meiner Grube liege, zuhören, müssen nunmehr nicht Ihr Smartphone bemühen, denn was Ihnen Wikipedia über diesen Baum zu verraten imstande ist, könnten Sie auch von mir erfahren. Glauben Sie, ich würde auf den Marktplätzen dieser Stadt einen Baum an meiner Seite präsentieren, über den ich nichts zu erzählen in der Lage bin? Ich nehme mich nämlich, wenngleich das angesichts dessen, was ich bislang von mir gegeben habe, womöglich überraschend erscheinen mag, vielleicht nicht wichtig, aber durchaus ernst. Deshalb würde ich mich auch nie auf eine Obstkiste stellen, inmitten eines Marktes voller vor Projektions- und Spottbedürfnissen nur so strotzenden Menschen, die permanent Ausschau halten nach Gelegenheiten, einen anderen zu erniedrigen oder zu erhöhen, meist allerdings zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen, während mir ganz alleine diese Obstkiste genügt, diese Grube, mir diese fünfzig Zentimeter Erhöhung, diese drei Meter Erniedrigung über oder unter den Erdboden vollkommen ausreichen, wobei ich selbstredend weiß, dass jedes meiner Worte gegen mich verwendet werden kann. Es muss doch geradewegs so wirken, als würde ich mich über die Menschen rundum auf den Märkten erheben, ich und mein Wild- oder Vogelkirschbaum, oder als würde ich mich tiefgründiger machen, als es mir zusteht, summa summarum als hätte ich etwas verstanden, was sie, die anderen Menschen, und auch Sie, die mir zuhören, nicht verstehen. Werfen Sie mir ruhig alles vor, insbesondere dass ich nicht zum Punkt komme, dass ich abschweife, dass ich Ihre Geduld auf die Probe stelle, dass ich Sie langweile, ja sogar, dass ich Sie frotzle. Das alles stimmt genauso, wie es falsch ist, aber eines ist unzweifelhaft wahr: dieser Baum. Niemals würde ich mich daher auf eine Obstkiste stellen und darauf hoffen, dass jemand aus der mich verlässlich umgebenden Traube sich herauslösen und fragen würde: ‚Was verlangst du für diesen Baum?‘ Das wird nie geschehen, denn würde es geschehen, so wäre die Welt eine andere und nicht mehr jene, in der man davon ausgehen müsste, dass sich kein Mensch eine Blöße geben will, weswegen es eine Welt mit völlig neuer Zeitrechnung wäre, sodass es jenes von mir hier und jetzt – auf der Obstkiste, in der Grube, unter den Ästen eines blühenden, verblühten Wild- oder Vogelkirschbaums – verwendete ‚nie‘ in diesem zeitlichen Kontext nicht mehr gäbe. Sie sehen, Sie verstehen, es gibt kaum eine Möglichkeit für mich, diesen Baum loszuwerden und in ein Leben einzutreten, in welchem ich mich nicht mehr dazu genötigt sähe, Tag für Tag zu einem Markt zu trotten, eine Obstkiste zu besteigen und auf womöglich kryptische, aber in Wahrheit ausgesprochen luzide Art diesen Baum anzupreisen, in der Hoffnung/Befürchtung, in der Erwartung/Illusion, in der vermeintlichen Indifferenz, mit der ich, wie doch aus allem bisher Gesagten hervorgehen muss, einem solchen Ereignis gegenüberstehen würde, dass nämlich einer meiner Zuhörer/Zuschauer (ich kann niemandem einen Sinn unterstellen, geschweige absprechen) mich erlösen würde und mir dieses Bäumchen (ich nenne das Gewächs je nach Lust und Laune, wie ich meine, aber vermutlich aufgrund komplexerer Funktionen meines Geistes, ‚Baum‘ beziehungsweise ‚Bäumchen‘) abzukaufen oder anderweitig zu erwerben gewillt wäre. Somit bin ich notgedrungen Tag für Tag selbst derjenige, der mich erlöst und zur Dämmerung, wenn sich der Markt geleert hat, wenn die Verkaufsstände geschlossen sind, wenn ich nur mehr von den Fassaden schmucker Bürgerhäuser angeschwiegen werde, das Wort an mich auf der Obstkiste stehend richte.

- O Herr, welch schönes Bäumchen Sie hier mit sich führen. Eine Wild- oder Vogelkirsche, wie ich meine.
- Ganz recht, mein Herr, tatsächlich handelt es sich bei dem Baum, den ich hier in meiner Hand halte, um einen der Sorte Wild- oder Vogelkirsche.
- Ich sehe auch, auf dem Bäumchen ist ein Schild mit der Aufschrift ‚Zu vergeben‘ angebracht. Gehe ich recht in der Annahme, dass die Möglichkeit besteht, mir dieses Bäumchen anzueignen, so wir beide uns, wie man sagt, handelseins werden?
- Ja, mein Herr, Sie fehlen nicht in dieser Annahme, ja ich möchte sogar sagen, Sie sind bereits der neue Eigentümer dieses Bäumchens alleine deshalb, weil Sie dies erkannt haben.
- Sie meinen, mein Herr, weil ich durchaus ohne mich hierfür eines technischen Hilfsmittels zu bedienen weiß, wofür diese Sorte Baum namens Wild- oder Vogelkirsche, wie die Kirsche allgemein, auf einer symbolischen Ebene steht, nämlich …
- Obacht, mein Herr, Obacht! Wir dürfen die offensichtlichen Gegebenheiten nicht aussprechen.
- Nein, mein Herr, das sollten wir auch nicht. Wir wollen …
- … uns einen ruhigen Ort suchen, weit weg von anderen Menschen, fernab des Lärms dieser Zeit, und …
- … uns eine Schaufel besorgen …
- … eine Schaufel wird es an jenem Ort bereits geben. Sie wird zur Zierde dort liegen, denn auch unsere Grube wird bereits ausgehoben sein.
- Ja wird denn gar schon eine Mulde vorbereitet sein, in die wir unseren Wild- oder Vogelkirschbaum einsetzen können, dergestalt, dass wir in der Grube liegend ihre Krone über uns wiegend wissen?
- Selbstverständlich, mein Herr, das alles wird so sein. Es ist bereits so. Wir liegen bequem und betrachten den mondbeschienenen schwarzblauen Himmel, die Äste und Zweige unseres Bäumchens. Wir hören sogar den Nachtklang der Frühlingsvögel.
- Und morgen werden wir abermals auf einer Obstkiste stehen …
- … unsere Wild- und Vogelkirsche verlässlich an unserer Seite.
- Niemand wird sie nehmen, niemand wird sie wollen, niemand wird sie verstehen. Und wenn eines Tages doch …
- … so wird einer von uns …
- … die Schaufel nehmen und …
- … den anderen …
- … vergraben und sagen:
- Wir sind mit nichts auf diese Welt gekommen …
- … mit nichts werden wir sie wieder verlassen.

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